Russen und der Krieg in der Ukraine: Wodka und Tränen
Die im Krieg in der Ukraine gestorbenen Soldaten verklärt der Kreml zu Helden. Viele Menschen in Russland scheinen gefangen in Gleichgültigkeit und Hass.
Im Fernsehen laufen Hits der neunziger Jahre, es ist seine bewusste Entscheidung, die immer schriller werdende Staatspropaganda nicht in seine Küche zu lassen. „Diese Schufte haben in meinem Haus nichts zu suchen“, fährt er selbst Bekannte an, wenn sie „nur kurz Putins Ansprache“ sehen wollen. Er habe Prinzipien, sagt Andrei.
Sein richtiger Name und sein Wohnort sind verfremdet, auch das ist eine Folge der immer weiter um sich greifenden Repressionen im Land. Die Angst, sie sitzt tief in jedem Menschen hier, die Vorsicht, die Sorge, irgendeine Linie zu überschreiten, auch wenn niemand von ihnen weiß, wo diese Linie ist, wie sie aussehen könnte.
Im „hybriden Totalitarismus“, wie der russische Politikbeobachter Andrei Kolesnikow die russische Staatsform mittlerweile nennt, regiert die allumfassende Willkür. Die Stimmung in Russland? „Wir halten durch“, sagt Andrei.
Putins Untertanen
Zwei Jahre dauert der Krieg in der Ukraine an. Tag für Tag Zerstörung, Tod, Leid, weil der russische Präsident Wladimir Putin mit Drohnen, Bombern und Panzern seiner Logik der historischen Gerechtigkeit folgt und von seinem Volk die vollkommene Unterstützung seiner Macht einfordert, die Menschen zu seinen Untertanen macht. Diese, jedes Bürgerdaseins beraubt, unterwerfen sich in Massen den „militärischen Heldentaten“, sie poltern gegen „diese Nazis, die auf unserem Territorium unsere Leute töten“. Sie schauen weg und sagen: „Was ist schon dabei?“
Sie sind so in ihrer Gleichgültigkeit gefangen, dass kein Funken Empathie sie erreicht, scheinbar nichts kann die Millionen Konformist*innen in dieser brüchigen Routine erschüttern. Bis dann der Mann an die Front muss, der Sohn im Zinksarg zurückkommt. Sie weinen, sie klagen, den Krieg aber stellen sie nicht infrage.
Sie schlucken die Bitterkeit herunter und schleppen sich ermüdet durch ihr Leben, als wäre nichts geschehen, auch wenn sie wissen, dass etwas Monströses passiert. Manche von ihnen können dieses „Etwas“ nicht in Worte fassen und schieben es weg, als könnten sie sich von der Realität loslösen.
Einige spüren das Unrecht, das sich gegen sie richtet, sie tragen weiße Kopftücher, diese Farbe der Unschuld, und bringen Blumen an die Kremlmauer. „Mein Mann soll zurückkommen von der Front“, fordern sie. Es sollen andere dorthin, die Soldaten, die Freiwilligen, sagen sie dann. Die Systemfrage stellen sie nicht.
Es ist schwer, in Russland die Systemfrage zu stellen. Alexei Nawalny hatte sie gestellt, immer und immer wieder. Er tat es auch, ironisch feixend, noch hinter den Mauern seiner Strafkolonie, in der Dunkelheit hinter dem Polarkreis. Er erlag der staatlichen Folter und mit ihm starb auch die Hoffnung vieler Russ*innen auf Veränderung. Auf eine Zukunft.
Ende der Hoffnungen
Sein Tod ist nach dem Überfall der zweite Schlag innerhalb von zwei Jahren, ein neues „Es darf nicht sein, und es passiert doch vor unseren Augen“, das ihnen jegliche Zuversicht raubt. Sie versuchen, optimistisch zu sein, versuchen, Nawalnys Aufforderung „Gebt niemals auf! Habt keine Angst!“ als Leitlinie für sich selbst in Gang zu setzen. Es gelingt den wenigsten, noch sitzt der Schock zu tief.
Ein neues Grauen, während der Horror vom 24. Februar 2022 sich tief eingegraben hat und weiter anhält. Wie auch nicht? Sie spüren ihr Verlorensein, die Übermacht der Hurrapatriot*innen, der Krakeeler*innen, die ihnen ins Gesicht spucken: „Ihr seid die fünfte Kolonne! Vom Westen beeinflusst! Ihr zieht unser Land in den Dreck!“
Andrei verzweifelt an „solch einem Unvermögen, selbst zu denken“, verzweifelt daran, wie unverfroren der Staat seinen Müttern und Vätern die Söhne entreißt und diese Mütter und Väter sich fügen. Geht es denn anders? „Mein Sohn hat sich dafür entschieden, dem Staat zu dienen. Nun muss er ihn verteidigen, dazu habe ich ihn erzogen“, sagt Andreis Bekannte Lena*.
Wieder diensttauglich
Minuten später ruft dieser Sohn, vor einigen Wochen verletzt aus der Ukraine heimgekehrt, an und berichtet ihr, die Wehrkommission habe ihn wieder für diensttauglich erklärt. In zwei Wochen müsse er wieder einrücken. Lena dreht sich weg, weint und sagt: „Er tut das für unser Land.“
Andrei hat es aufgegeben, sein Umfeld zu belehren. „Das Regime hat die Menschen in die Armut getrieben, sie kämpfen ums Überleben“, sagt er. „Da ist es einfach, ihnen ein Gefühl für die Einmaligkeit und Großartigkeit der russischen Nation unterzujubeln. Sie lassen sich leicht verführen, geben ihre Menschlichkeit fast schon bereitwillig auf.“ Er hatte sich jahrelang politisch engagiert, für „mein normales Land“, ein Russland, „das sich nicht selbst zerstören soll“, und er hatte auch mit Nawalnys Ideen sympathisiert.
Nicht alles an dem Oppositionspolitiker begeisterte ihn, die Kraft des Jüngeren aber, Andrei ist über fünfzig, imponierte ihm, diese Fähigkeit, den eigenen Idealen zu folgen – bis zum Äußersten. Andrei sagt, „solch übermenschlichen Kräfte“ besitze er nicht, und er floh aus der Stadt ins Dorf. Zu nah war ihm der Sicherheitsapparat bei seinen politischen Aktionen gekommen. Er wollte die Freiheit, nicht den Knast. „Natürlich mache ich weiter, aber nicht mehr sichtbar.“
Die zwei Jahre Krieg haben auch in Russland Verheerungen hinterlassen. Tote Soldaten, Tausende Festnahmen Andersdenkender, Verurteilungen wegen „Diskreditierung der russischen Armee“ und „Verbreitung von Fakes“, Umdichtung der Geschichte, Umformung der Gesellschaft, vom Kindergarten an.
Panzer in der Manege
„72 Prozent aller Kinder von 5 bis 19 Jahren sollen bis Ende 2024 vom patriotischen Bildungssystem erfasst sein“, forderte die für die Sozialpolitik zuständige Vizeministerpräsidentin Tatjana Golikowa. Das ist seit Jahren im vollen Gange und äußert sich auch darin, dass bei Familienvorstellungen im Zirkus plötzlich ein Panzer in der Manege steht. Lehrer*innen haben kein Problem, den Kindern das Lesen und Schreiben mit Texten beizubringen wie diesem: „Tolik will Soldat sein und alle seine Feinde mit seiner Pistole erschießen. Er ist ein Held.“
„Wer die Luft des Terrors atmet, stirbt, auch wenn er zufällig am Leben bleibt“, hatte Nadeschda Mandelstam in ihren Erinnerungen geschrieben. Die sowjetische Autorin hatte ihren Mann Ossip, der in seinen Gedichten Stalin angegangen war, 1938 im Gulag verloren.
Heute weihen Politiker in ihren Städten Stalinbüsten ein, Schüler*innen defilieren vorbei. Sie sehen sich als Teil einer großen Mission und sind Hasser geworden, an deren taubblinder Weltsicht jedes Argument abprallt. Es ist ein erheblicher Teil der Gesellschaft. „Es bleiben Wodka und Tränen“, sagt Andrei an seinem Küchentisch im Dorf X. Seine silberne Flasche steht am Fenster.
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