piwik no script img

Hochradioaktives Material lagert hier zum Glück nicht mehr: Block 6 des AKW Greifswald Foto: John MacDougall/Afp/Getty Images

Rückbau von KernkraftwerkenWie zerlegt man ein Atomkraftwerk?

In Lubmin wird das komplette AKW Greifswald demontiert und verpackt, und das seit fast 30 Jahren. Warum dauert das so lang? Ein Besuch im Schutzanzug.

Von Wolfgang Mulke aus Lubmin

S anft weht der Wind durch den Schilfgürtel des Seebads Lubmin, am nordöstlichen Rand Deutschlands. Es ist eines der weniger populären See­bäder, liegt es doch noch weit vom offenen Meer entfernt. Von dort geht die Fahrt weiter, mitten ins Nichts Vorpommerns. Ein paar Kilometer dahinter öffnet sich am Straßenrand das weitläufige Gelände des Kernkraftwerks Lubmin.

Noch heute sind an den Seitenwänden der Reaktorgebäude große Klappen zu sehen. Sie sollten im Katastrophenfall geöffnet werden, um Druck abzulassen. So wäre radioaktiver Dampf einfach ausgetreten.

Man sieht die Reaktorgebäude von Weitem, die kahlen Betonwände, die riesige Baustelle, die verbliebenen Verwaltungsgebäude. Neu ist die große Halle weit hinten auf dem Gelände, das Zwischenlager für alle möglichen radioaktiven Stoffe. Wohngebäude sind weit und breit nicht zu sehen. Der Landkreis ist mit gerade einmal 60 Einwohnern pro Quadratkilometer dünn besiedelt. In Hamburg teilen sich 2.450 Menschen diese Fläche.

An der Sicherheit der Anlage hat er trotz mancher Berichte keine Zweifel. Da sei über­trieben worden, sagt er. „Jedem Störfall ist man auf den Grund gegangen“

Hartmut Schindel arbeitet seit den 1970er-Jahren im AKW Lubmin

Drinnen: Millimeter für Millimeter arbeitet sich ein langes Sägeblatt durch einen radförmigen Stahlblock. Wasser kühlt die Schnittstelle. Zusammen mit den anfallenden Spänen bildet es eine Pampe, die unterhalb der Sägeanlage in ein gelbes Fass gespuckt wird.

Noch misst der Stahlblock etwa einen halben Kubikmeter. Das ist zu groß, für die Einheit, in der im Kernkraftwerk Lubmin an der Ostsee bei Greifswald gedacht wird. Das geltende Maß gibt eine Standardbox vor. Sie ist 120 Zentimeter lang und 80 Zentimeter breit wie hoch, das Maß einer Europalette.

Der lange Weg in die Box

In solchen Boxen verschwindet das einst größte Kernkraftwerk Europas nach und nach. Große Betonteile werden ebenso aufgestemmt und zertrümmert wie Schreibtische oder Sanitäranlagen, Kabelstränge oder Rohre, bis sie klein genug für die Behältnisse sind. Die Sägen haben noch viel zu tun, bis die einst insgesamt fünf aktiven Reaktorblöcke, die begonnenen Bauten und alles drumherum so weit zerlegt sind, dass die einzelnen Teile in die Transportbehälter passen.

Ganz am Ende wird auch die Zerlegehalle selbst dieses Schicksal ereilen. Doch das werde noch dauern, sagt Kurt Radloff, Sprecher des Entsorgungswerks für Nuklearanlagen (EWN): „Wir werden mit dem Rückbau der Anlagen Ende der 30er-Jahre fertig sein, aber dann haben wir immer noch die Großkomponenten.“

Der Rückbau der Zerlegehalle sei erst für die 2060er-Jahre geplant. Der Abbau eines Kraftwerks dauert länger als Aufbau und Betriebszeit zusammen. Die Zwischenlagerung des hochradioaktiven Abfalls wird aus heutiger Sicht wohl noch länger dauern – wenn alles läuft wie erhofft.

Das Standardmaß der Boxen hat seinen Grund. Jedes Gramm des einstigen Kraftwerks muss eine Freimessanlage passieren, bevor es das Gelände verlassen kann. Die beiden Anlagen stehen still in einem ehemaligen Hochregallager. Zwischen den Geräten, die das Ausmaß eines kleinen ­Wohnwagens haben, steht ein altes Transistorradio der DDR-Marke „Stralsund“ und bringt etwas Leben in die Halle. „Lass uns noch mal aufdrehn“, dröhnt es aus dem Mund Udo Lindenbergs durch die Stille.

Seit 30 Jahren wird gefräst

Auch mitgebrachtes technisches Equipment muss erst durch die Prozedur des Freimessens. Die Arbeiter schieben es in das Gerät und beginnen die Messung. Eine Weile lang blinkt es grün und gelb, zum Glück nicht rot. Dann ist klar, dass der Inhalt hinsichtlich seiner Strahlenbelastung sauber ist. So dauert es schon mal eine Dreiviertelstunde, bevor der Zutritt zum Gelände erlaubt ist. Beim Verlassen ist das Prozedere erneut vorgeschrieben. Kein noch so kleines kontaminiertes Stück darf das Gelände verlassen.

Das „VE Kombinat Kernkraftwerke Bruno Leuschner“, wie der gigantische Komplex am Greifswalder Bodden zur Eröffnung 1974 noch hieß, sollte sechs Blöcke erhalten. Damals arbeiteten mehr als 10.000 Beschäftigte auf dem Gelände. Fünf Blöcke gingen ans Netz, der letzte nur für gerade einmal drei Wochen. Der sechste wurde zwar komplett fertiggestellt, doch fehlten die radioaktiven Brennstoffe noch, als die Anlagen 1990 abgeschaltet wurden. Das zeitigt heute einen positiven Nebeneffekt. Besucher können sich im Block sechs einen Meiler im Originalzustand anschauen.

Fünf Jahre nach dem Ende der Stromproduktion wurde der Rückbau genehmigt. Seit fast 30 Jahren fräsen, sägen und stemmen knapp 900 Beschäftigte die Reste auf Boxgröße zusammen.

In Westdeutschland gab es in den 70er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts massiven Widerstand gegen die Kernkraft. Der Protest gegen die Hochrisikotechnologie zog Zehntausende an die Bauplätze. Die Bilder von Schlachten zwischen Polizei und Demonstranten zeigten die Härte, mit der der Staat die umstrittenen Reaktoren durchsetzen wollte.

Standing der Atomenergie in der DDR

Manchmal war der Widerstand erfolgreich, etwa als der Plan für eine Wiederaufarbeitungsanlage im bayrischen Wackersdorf wieder in der Schublade verschwand. Auch in Gorleben setzte sich die Bevölkerung am Ende zumindest teilweise durch und verhinderte nach Jahrzehnten den Bau eines atomaren Endlagers. „Das war ein großer Erfolg“, urteilt der Sprecher der Bürgerinitiative Lüchow-Dannenberg, Wolfgang Ehmke, rückblickend.

In Ostdeutschland gab es keine großen Vorbehalte gegen den Atomstrom. Sie sei traurig gewesen, als die Meiler abgeschaltet wurden, sagt eine der Arbeiterinnen in der Zerlegehalle, die schon seit 30 Jahren in Lubmin arbeitet und die ihren Namen nicht in der Zeitung lesen will.

Nur nicht den falschen Knopf drücken: Ein Arbeiter im AKW Greifswald bedient eine Säge zur Demontage Foto: John MacDougall/Afp/Getty Images

Ihr Kollege Hartmut Schindel hat Mitte der 1970er-Jahre im Kraftwerk angefangen. An der Sicherheit der Anlage hat er trotz mancher Berichte über gefährliche technische Unzulänglichkeiten keine Zweifel. Da sei übertrieben worden, sagt er. Jedem Störfall sei auf den Grund gegangen worden. Nur habe das niemand an die große Glocke gehängt.

Bei den Umweltaktivisten der DDR standen andere Branchen im Fokus, etwa die Chemieindustrie. In der strukturschwachen Region am nordöstliche Ende des Landes begrüßten die Menschen den Bau des Kernkraftwerks, das moderne Arbeitsplätze in die Region brachte.

Früher eher fahrlässig

Diese Einstellung änderte sich auch nicht, nachdem einer der Physiker des Kraftwerks vor erheblichen Materialmängeln warnte, in deren Folge ein Störfall nicht mehr hätte kontrolliert werden können. Noch heute sind an den Seitenwänden der Reaktorgebäude große Klappen zu sehen. Sie sollten im Katastrophenfall geöffnet werden, um Druck abzulassen. So wäre radioaktiver Dampf einfach ausgetreten.

Der Rückbau ist nicht nur in Lubmin eine jahrzehntelange Herausforderung. Derzeit liegen laut Öko-Institut für bundesweit 22 Reaktoren Abrissgenehmigungen vor: Grafenrheinfeld, Biblis Block A und Block B, Isar 1, Gundremmingen B, Philippsburg 1 und 2, Neckarwestheim 1, Unterweser, Brunsbüttel, Mülheim-Kärlich, Stade, Obrigheim, Lingen, Hamm-Uentrop und Würgassen sowie das Kernkraftwerk Rheinsberg.

Für weitere Blöcke wurden bereits Anträge auf eine Genehmigung gestellt. Die Komplexität hat womöglich auch mit einer Fahrlässigkeit in den Anfangsjahren der Atomkraft zu tun. Als die Anlagen in den 60er-Jahren projektiert wurden, hat man sich keine Gedanken über die Stilllegung von Anlagen gemacht. Erst jetzt wurden und werden die Lösungen dafür entwickelt.

Das Vorgehen ist hier überall gleich. Zunächst sollen die Brennelemente in einem Lagerbecken einige Jahre lang abklingen. Ältere werden gleich in Castorbehältern für hochradioaktives Material verstaut und in ein Zwischenlager auf dem Gelände gebracht. Bevor die eigentliche Stilllegung beginnt, sollen alle Kernbrennstoffe entfernt worden sein.

Viele Milliarden Euro Kosten

Danach beginnt die Detailarbeit. Meter für Meter werden die Materialien auf Kontamination untersucht und entsprechend eingeordnet. Grundsätzlich nimmt die Radioaktivität mit der Nähe zum Reaktor zu. Viele Teile sind nur oberflächlich kontaminiert. Doch manche sind durch den Neutronenbeschuss selbst zur Strahlenquelle geworden, etwa die Reaktordruckbehälter.

Wie teuer der Rückbau wird, ist noch offen. Allein für Lubmin wurden die Kosten auf 6 ­Milliarden Euro geschätzt. Inzwischen geht EWN von einem höheren einstelligen Milliardenbetrag aus. Der frühere Bundesumweltminister Jürgen Trittin hat die Gesamtkosten für den Rückbaueinmal auf rund 60 Milliarden Euro geschätzt, die von den Stromkonzernen Vattenfall, E.on, RWE und EnBW sowie dem Bund aufgebracht werden müssen.

Black Box Strahlenschutz: Beim Rückbau des AKW werden alle Teile dekontaminiert – und dann verstaut Foto: John MacDougall/Afp/Getty Images

Der Bund ist zudem für die beiden DDR-Kraftwerke Rheinsberg und Lubmin zuständig. Dazu kommen streng genommen bis zum endgültigen Ende der Kernkraft die Kosten für die Endlagerung des Atommülls. Das Geld dafür kommt aus dem vom Bund verwalteten Fonds, in den die einstigen Betreiber rund 23 Milliarden Euro eingezahlt haben. Den Abriss übernehmen darauf spezialisierte Unternehmen wie EWN oder auch Bilfinger.

„Deko“ ist einer der am häufigsten verwendeten Begriffe in Lubmin. Es steht aber nicht für die Verschönerung von Räumen, sondern für die Dekontamination des Bauschutts und des Schrotts. In der großen Zerlegehalle am Bodden befreien Arbeiter zum Beispiel mit Hochdruckwasserstrahlen Stahlbleche von verseuchten Oberflächen. Hier wird auch das schwach oder mäßig verseuchte Inventar auseinandergenommen.

Strahlenfreier Schlüppi

Die Arbeitsbereiche sind strikt abgeschirmt. Wer hinein will, erhält einen Dosimeter, der eine etwaige Strahlenbelastung misst und notfalls akustische Warnungen geben kann. Nun heißt es, sich nackt auszuziehen und in bereitgelegte Unterwäsche und einen orangefarbenen Overall zu schlüpfen. Erst dann öffnet sich die Hallentür.

Auf dem Rückweg wartet eine Schleuse. „20, 19, 18, 17 …“, zählt eine Frauenstimme die Messzeit herunter, fordert bei null zum Umdrehen auf und beginnt die Messung erneut. Erst wenn keine Kontamination festgestellt wurde, öffnet sich die Schleuse und man darf wieder in den Umkleideraum.

Der gefährliche Atomschrott ist längst im Zwischenlager untergebracht. 241 Meter lang und 186 Meter breit ist das Gebäude mit den 8 Hallen, unter deren Dach in 20 Metern Höhe ein Kran die mit dem strahlenden Material gefüllten blauen Container stapelt. Fast ganz am Ende, in Halle sieben, reihen sich die Reaktordruckbehälter anein­an­der. Erst die aus dem Kraftwerk Rheinsberg, dann die aus Lubmin.

Halle 8 ist vom Rest noch einmal abgeschottet. Dort lagern die hochradioaktiven Hinterlassenschaften der AKW-Ära. Sie werden wohl noch Jahrzehnte in Lubmin bleiben, weil sich die Suche nach einem Endlager für den hochgefährlichen Atommüll verzögert. Die weniger stark belasteten Stoffe werden abtransportiert, wenn in der zweiten Hälfte dieses Jahrzehnts mit Schacht Konrad ein Endlager für schwach- und mittelradioaktive Stoffe bei Salzgitter eröffnet wird.

Nicht mit der Abrissbirne

In Lubmin ist ein weiteres Zwischenlager für hochradioaktive Stoffe geplant. Nuklearexpertin Angelika Spieth-Achtnich vom Öko-Institut in Darmstadt ist Gutachterin bei der Umweltverträglichkeitsprüfung des neuen Lagers. Das Institut betreibt das Monitoring für den Rückbau aller AKW. Mit den bisherigen Erfahrungen an den verschiedenen Standorten in ganz Deutschland ist sie zufrieden. „Wir haben bisher keine unlösbaren technischen Probleme vorgefunden“, stellt sie fest.

Die Vorsicht bewährt sich bisher. „Ein Atomkraftwerk wird nicht mit der Abrissbirne rückgebaut“, sagt sie. „Da wird alles sauber sortiert.“ Überall würden hohe Qualitätsstandards gelten, die Behörden und Gutachter überprüften. „Wenn die Brennelemente entfernt und in Castorbehältern gelagert worden sind, ist das große Freisetzungspotenzial fort“, erläutert sie weiter.

Die Expertin ist von dem Konzept der Dekontamination bis hin zum kleinsten Teil überzeugt. Bleibt danach noch ein strahlender Rest übrig, kann das Material nicht freigemessen werden. Es kommt zur Nachbehandlung wieder in den Prozesskreislauf. Am Ende, so ist sich Spieth-Achtnich sicher, können die Anlage, die Gebäude und auch der Grund und Boden wieder sauber sein. „Die grüne Wiese ist möglich“, versichert sie.

Daran zweifeln manche Anwohner immer wieder und sorgen sich um die Gefahren durch Reststoffe. Laut Öko-Institut ist die Angst vor einer Strahlenbelastung unbegründet. Freigemessen wird nur bei einem Strahlenwert von 10 Mikrosievert. „Der Freigabewert liegt um das 300-Fache unter der natürlichen Strahlung“, beruhigt Spieth-Achtnich. Selbst wenn der Dosis jemand ausgeliefert wäre, bliebe das Risiko eines gesundheitlichen Schadens extrem gering.

Strahlendes Badewetter: Das Strandbad Lubmin liegt in Sichtweite des stillgelegten Kernkraftwerks Foto: Andre Gschweng/imago

In Lubmin werden sich wohl auch nach abgeschlossenem Rückbau keine Schafe auf grüner Wiese tummeln. Das Areal wächst zum neuen Energiehub für die Versorgung mit Gas heran. Unweit des Kraftwerkareals kommen die beiden Ostseepipelines Nord Stream 1 und 2 an. Durch sie wird voraussichtlich kein Gas aus Russland mehr ankommen. Dafür ist ein Terminal für Flüssiggastanker entstanden. Auch soll eine Pipeline durch den Bodden zu einem weiteren schwimmenden Terminal vor Rügen gezogen werden.

Auch bleibt das Zwischenlager für Atommüll noch viele Jahrzehnte in Betrieb. Zurück bleibt auch der sechste Reaktorblock. Hier können sich Besucher noch ein Bild vom Innenleben eines Meilers machen, wenn die Stromproduktion durch Atomkraft schon lange Geschichte geworden ist.

Der Atommüll wird dagegen noch viele Generationen belasten. Noch immer ist kein Platz für ein Endlager festgelegt worden. Die Bundesgesellschaft für Endlagerung erarbeitet Vorschläge für Standorte. Ein Ergebnis sollte Anfang der 30er-Jahre vorliegen. Doch auch dieser Zeitplan ist nicht mehr zu halten. Wann die letzte radioaktive Hinterlassenschaft einen sicheren Lagerplatz gefunden hat, ist weiter offen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen