Roms vergessene Architektin: Rehabilitierung einer Baukünstlerin
Plautilla Bricci war die erste Architektin der Neuzeit. Doch sie wurde vergessen. Melania Mazzucco verleiht ihr nun literarisch eine Stimme.
Von einer Frau, noch dazu auf dem Baugerüst, nahm der capomastro Beragiola keine Anweisungen entgegen. Da half nur der Gang zum Notar. Mit einem sechsseitigen Leistungsverzeichnis erzwang Plautilla Bricci die pünktliche und getreue Ausführung ihres Entwurfs der Villa am westlichen Stadtrand von Rom. Und sie verlangte von dem renitenten Bauleiter die Anrede mit architettrice, Architektin: ihre Schöpfung aus der männlichen Berufsbezeichnung architettore. Eine Revolution.
Es war ein extravaganter Entwurf. Die 47-jährige Architektin ersann das Landhaus für Abt Benedetti in Gestalt eines auf einem Felsen gestrandetem Segelschiff. Der steil aufragende Schiffsbug mit Galionsreling schien furchtlos auf den Petersdom zu zusteuern. Wie ein Disney-Schloss musste den Zeitgenossen die „Il Vascello“, „Das Schiff“ genannte Villa Suburbana auf dem Gianicolo-Hügel erschienen sein. Keine schlechte Idee, um sich in Szene zu setzen. Benedetti war schließlich Diplomat des mächtigen Sonnenkönigs.
Das war 1663. Für knapp zwei Jahrhunderte als Kuriosität in allen Romführern erwähnt und mehrfach illustriert, setzte Kanonenfeuer während der Revolution von 1849 ihrem Ruhm abrupt ein Ende. Nur der künstliche Felsen mit dem eingemeißelten Wellenspiel, ein von Bernini inspiriertes Motiv, hat überlebt. Die Villa geriet in Vergessenheit – wie ihre geniale Baumeisterin Plautilla Bricci. Die Historiografie hatte noch kein Interesse an Künstlerinnen.
Es bedurfte einer Feministin mit der Passion für Kunstgeschichte wie Melania G. Mazzucco, um die erste Baumeisterin des Barocks aus dem Dunkel der Archive zu befreien. Ihre fiktive Biografie „L’architettrice“ war 2019 eine Sensation in Italien. Mit der Übersetzung versucht nun der Folio Verlag das deutschsprachige Publikum zu erobern: „Die Villa der Architektin“.
Melania G. Mazzucco: „Die Villa der Architektin“. Aus dem Italienischen von Karin Fleischanderl. Folio Verlag, Wien/Bozen 2024, 480 Seiten, 28 Euro
Wie konnte die erste Architektin der Neuzeit vergessen werden? Das fragte sich die römische Erfolgsautorin, als sie 2002 zufällig bei einer Recherche zu der Villengeschichte über den Namen Plautilla Bricci stolperte. „Ich entdeckte, dass so gut wie nichts über ihr Leben bekannt war.“ Die Suche nach einer Antwort ließ sie über ein Jahrzehnt Archive und Museumsdepots durchforsten, Nachlässe, Kataster und Skizzenbücher auswerten, um den verborgensten Winkel ihrer Existenz zu ergründen.
Kein Platz für Frauen
Daraus entstand ein historischer Roman von epischer Kraft. Mazzucco lässt die Protagonistin, ein Mädchen aus dem Volk, persönlich ihr Leben erzählen. Dabei schwenkt sie wie mit der Kamera durch das Rom des 17. Jahrhunderts, eine Stadt voller barocker Kunstfreude und archaischer Gewalt, in der Heerscharen von Handwerkern und Künstler um Aufträge und Ruhm am Papsthof buhlen. Den Frauen hingegen scheint nur ein Platz hinter den Mauern zugewiesen zu sein.
Dennoch gelingt es Plautilla, sich den Weg von der Malerei zur sublimen Kunst der Architektur zu erkämpfen – bis etwa 1900 eine absolute Männerdomäne. Als erste Frau entwirft und baut sie eine Villa und eine Kapelle, sie dirigiert Künstler wie Pietro da Cortona, nimmt an öffentlichen Ausschreibungen teil und wird Ehrenmitglied der berühmten Kunstakademie San Luca. Sie unterhält ihre eigene Werkstatt mit einem Gehilfen und kann von ihren Einkünften leben.
Plautilla kommt 1616 als drittes Kind einer mittellosen Künstlerfamilie in Rom zu Welt. Wie bei anderen Malerinnen der Zeit erfolgt ihre erste Ausbildung in der väterlichen Werkstatt. Der gichtkranke Giovanni Briccio, ein erfolgloses Multitalent, gibt seiner Tochter früh eine solide humanistische Bildung und führt sie in die Techniken des Zeichnens und Malens ein, die er bei Federico Zuccari und Cavalier d’Arpino erlernt hat.
Da Plautilla das Aktstudium verwehrt ist, stürzt sie sich auf religiöse Themen, auf Andachtsbilder, die leichter Absatz finden und zu ihrem konstruierten Image als „virtuose Jungfrau“ passen. Denn um zukünftig freier arbeiten zu können – Frauen dürfen unbegleitet kaum das Haus verlassen –, legt sie ein Keuschheitsgelübde ab.
Franzosen waren aufgeschlossener
Die entscheidende Wende bringt die Bekanntschaft mit dem einflussreichen Abt Elpidio Benedetti. Als Faktotum und Kunstagent von Premierminister Jules Mazarin, später dann auch für Ludwig XIV., pendelt der Geistliche zwischen der römischen Kurie und Paris und vermittelt Künstler wie Bernini für die Neugestaltung des Louvre.
Die Förderung einer Frau ist kein Zufall, denn die französischen Zirkel sind aufgeschlossen, nicht zuletzt dank der Mutter des Sonnenkönigs, die die Bewegung der „Femmes fortes“ unterstützt. Elpidio versorgt Plautilla mit Aufträgen und macht sie zu seiner Hausarchitektin.
Erste Bauerfahrung sammelt sie beim komplexen Umbau seines Stadtpalasts in der Via del Monserrato, der heute noch steht. Ihr Hauptwerk wird die besagte Villa del Vascello mit Fresken von Pietro da Cortona und einem Lustgarten. Nunmehr als Architektin respektiert, darf sie die Kapelle des Landesheiligen in der französischen Nationalkirche S. Luigi dei Francesi planen und bauen, ein wahres Barockmanifest aus Stuck und polychromen Marmor. Für eine bessere Beleuchtung des Altarblatts mit dem heiligen Ludwig lässt sie sogar die Kirchenmauer durch Glasfenster ersetzen. Die Kapelle wird die letzte Ruhestätte von Elpidio.
Unklar ist, wo sie ihre Architektenausbildung machte, die damals in den Werkstätten der großen Baumeister wie Bernini oder Pietro da Cortona erfolgte. Frauen waren gelegentlich als Arbeiterinnen auf Bauhütten tätig, zur Unterstützung des Familienbetriebs. Frauen in Führungspositionen waren jedoch undenkbar.
Mathematikverständnis und dreidimensionales Denken wurde ihnen ebenso abgesprochen wie die Fähigkeit, eine Mannschaft von Maurern zu dirigieren. Ihre künstlerische Tätigkeit sollte innerhalb von geschlossenen Räumen stattfinden, sie beschränkte sich folglich zumeist auf Kunstgewerbe und Miniaturen.
Demütigungen durch Kollegen
Plautillas Karriere verläuft nicht ohne Demütigungen. Zuweilen nutzt Elpidio ihre unterlegene Position, um sich selbst vor dem Arbeitgeber zu profilieren. So präsentiert er ihre Entwurfsvorschläge für das Grabmonument von Kardinal Mazarin als die eigenen. Ein Rätsel, warum er in seinem 1676 publizierten Villenführer nicht Plautilla, sondern ihren mediokren Bruder als alleinigen Architekten zitiert. Basilio hingegen arbeitete unter ihrer Ägide. Fürchtete er, der Nachwelt als zu progressiv zu erscheinen?
Als hätte sie es geahnt, lässt sie in den Grundfesten der Villa eine Platte mit ihrem Namen eingravieren. Der Zufall rettete eine Abschrift, das Lastenheft und ihre Entwürfe.
Die Historiografen schrieben später ihre Werke entweder Basilio zu oder ignorierten sie. Auch ihre produktiveren Kolleginnen Artemisia Gentileschi und Lavinia Fontana wurden vergessen. Keines dieser Existenzmodelle hat Schule gemacht, sie blieben Einzelkämpferinnen. Mazzucco hat aber noch eine andere Erklärung: „Plautilla hatte weder Erben noch Schüler. Außerdem waren die Franzosen unter Mazarin und dem Sonnenkönig verhasst in Rom.“ Die „falschen“ Auftraggeber also.
Die im Roman auftauchenden Namen, Fakten, Daten sind historisch, postuliert Mazzucco im Nachwort. „Natürlich können Fakten unterschiedlich interpretiert werden “, räumt die Autorin ein. Zwischen dem Abt und Plautilla spinnt sie eine heimliche Liebesbeziehung, „weil er sie im Testament bedachte, wie es gewöhnlich Prälaten mit ihren Kurtisanen machten: mit einem lebenslangen Wohnrecht“.
Die Forschung ist angelaufen
Mit der Präzision einer Historikerin verwebt Mazzucco das Leben der Künstlerin mit dem der Stadt. Die Biografie gewann 2020 den Silvia-Dell’Orso-Preis als bestes populärwissenschaftliches Buch und regte zu einer Ausstellung im Palazzo Corsini an, wo erstmals ihre Werke gezeigt wurden. Auch die Forschung läuft seitdem auf Hochtouren: Weitere Bilder wurden entdeckt, und ihr Todesjahr konnte von 1705 auf November 1692 korrigiert werden.
Inzwischen erhielt ein Weg in der Villa Pamphili ihren Namen. Führungen durch die Altstadt zeigen ihre wenigen erhaltenen Werke und zahlreichen Lebensstationen, die sich zwischen den Gassen des Tridente, Borgo und von Trastevere abspielten. Die Kirche scheint weniger Eile zu haben, die vergessene Künstlerin zu rehabilitieren.
Ihr Madonnenbild in Santa Maria in Montesanto hatte bis vor Kurzen nicht einmal eine aktualisierte Beschriftung. „Dabei entdeckte die Restauratorin bereits 2016 die wahre Geschichte des hochverehrten Altarblatts“, erzählt Mazzucco.
Nicht besser sieht es in der Kapelle in San Luigi dei Francesi aus, an der Hunderte von Besuchern täglich vorbeilaufen, um die Caravaggio-Gemälde zu sehen. Hier ist „P. Bricci“ angegeben, „als könne man nicht glauben, dass es sich um eine Frau handelt“. Es ist nicht leicht, Spuren Plautillas in der Ewigen Stadt zu finden. Einen würdigen Platz in der Stadtgeschichte gibt ihr bisher nur der Roman.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen