Romanepos von J. J. Voskuil: Sieben Ziegelsteine Büroalltag
„Seifenoper für Intellektuelle“ oder Weltliteratur? In „Das Büro“ schildert der Niederländer J. J. Voskuil minutiös ein jahrzehntelanges Berufsleben.
Ein Buch hält eine ganze Nation im Bann. Ein Buch über das Leben im Büro. Von einem Autor, der eher eine Randerscheinung war, der jahrzehntelang nichts Literarisches veröffentlicht hat, der erst mit dem Schreiben dieses Buchs begonnen hat, als er endlich in Pension war: Johannes Jacobus (J. J.) Voskuil, geboren 1926 in Den Haag, langjähriger Volkskundler, gestorben auf dem Höhepunkt seines Ruhms, nicht lange nach Beendigung des letzten Bands, im Jahr 2008. Sehr vermutlich als versöhnter Mann.
Ein Hype um einen älteren einheimischen Autor, der nichts anderes gemacht hat, als sein früheres Büroleben in ein mehrteiliges Romanepos zu gießen? Ein Epos, das ohne neue Cliffhanger auskommt, ohne von US-Fernsehserien abgeschauter Dramaturgie und trotzdem aus gut lesbaren sieben Ziegelsteinen besteht?
Und, vor allem: Der so die Schicht der einfachen Büroangestellten in den Blick nimmt. Über fünf Jahrzehnte hinweg.
Der Erfolg des J. J. Voskuil, der es mit dem 5.200 Seiten starken Romanprojekt auf Platz 7 der wichtigsten niederländischen Romane aller Zeiten (Platz 1: Harry Mulisch, „Die Entdeckung des Himmels“) geschafft hat, ist ziemlich einzigartig. Und so wahrscheinlich auf Deutschland nicht übertragbar.
C. H. Beck hat es mit dem ersten Band versucht (bereits 2012), der Verbrecher Verlag hat das Projekt übernommen und veröffentlicht inzwischen, nach den Bänden 2 bis 4, den fünften Band mit dem Titel „Und auch Wehmütigkeit“.
Wer es bislang verpasst hat, kann auch noch einmal neu einsteigen, denn im Herbst wird Band 1 herauskommen, ebenfalls im Verbrecher Verlag. So bedauerlich es ist: Der ganz große Erfolg wird sich kaum einstellen. Und das hat Gründe. Wenn auch keine guten. Sie liegen weniger darin, dass „Das Büro“ in der Niederlanden spielt, und mehr darin, dass die lesende deutsche Mittelschicht nicht zur Selbstreflexion neigt.
„Das Büro“ ist ein Kultbuch für einfache Angestellte, ein breites, üppiges Identifikationsangebot für Büroleute. Die deutsche Mittelschicht aber sucht ihr Heil im Eskapismus von Vampirromanen und neu aufgelegten historischen Büchern und will sich selbst realistisch nicht gespiegelt sehen, es sei denn, der Hyperrealismus kommt in Form eines Familienromans (seltener) – der Familienroman ist eher die bildungsbürgerliche Abteilung) – oder eines guten Krimis (öfter) daher. Wollen die Deutschen etwas über sich und ihre Arbeit erfahren, schauen sie lieber ins Fernsehen (siehe „Stromberg“).
Dabei ist der Versuch, den Komplex „Büro“ narrativ in den Griff zu bekommen, ziemlich einzigartig. Voskuil schafft es, eine soziale Studie als Langerzählung anzulegen, und das auf zugänglichem Niveau – und dabei dicht an der dem Autor vermutlich ziemlich nahen Hauptfigur namens Maarten Kooning zu bleiben.
Am Institut für Volkskunde
Band 1 setzt mit Maartens erstem Arbeitstag ein; was folgt, ist eine minutiöse Schilderung des Büroalltags samt seiner Bewohner – erzählt anhand kleiner Szenen in chronologischer Reihenfolge. Es ist ein Roman, der vom Niederländischen Institut für Volkskunde handelt und das dortige Schaffen Jahr für Jahr runtererzählt. Am Ende steht Maartens Ausscheiden aus dem Institut, das er über Jahre mitgeprägt hat.
Wie aber diese Szenen aneinander gebaut sind und wie die Sprache funktioniert, ist erstaunlich. Es gibt keine Manierismen, es gibt keinen ausgestellten Kunstwillen. Auch keinen ausufernd angelegten Plot. Und doch liest man das so weg.
Man freut sich über die kleinen Beschreibungen der Figuren, die Zeichnungen, die genau sind, nie über das Ziel hinausschießen, die nie etwas anderes wollen als: erfassen. Menschenkunde. Reine, erzählende Chronologie. Es handelt die Zeit, und die Sprache ordnet sich dem unter. Gleichzeitig stellt das Buch den Versuch dar, Zeitkolorit, Atmosphäre und (politische) Struktur einzufangen und etwas über das Wesen der Niederlande der Nachkriegszeit zu erzählen.
„Eine Seifenoper für Intellektuelle“ wurde dieser Lesestoff bereits genannt. Es könnte aber auch ein Angebot für die sein, die sonst nichts mit Literatur-Literatur zu schaffen haben.
Weltliteratur, vergleicht man es beispielsweise mit David FosterWallace’ Nachlasstrumm „Der bleiche König“ (der ein ähnliches Thema hat: das öde Dasein des Finanzbeamten), oder mit derPessoa’schenFlucht vom Schreibtisch in den Existenzialismus – also, Weltliteratur ist Voskuils Wurf so gesehen nicht. (An einer Stelle in diesem ersten Band entscheidet sich Maarten Kooning lustiger- und interessanterweise für Stendal und gegen Balzac – also für das Magische und gegen das hysterisch Aufzeichnende und Wertende.)
Ein Mann mit einer Depression
Wenn man einen literarischen Vergleich sucht, bietet sich einer natürlich am meisten an: Herman Melvilles Bartleby – die legendäre Figur eines Totalverweigerers, die Beschreibung eines Büroangestellten, genau gesagt: eines Kopisten, der sich eines Tages aus der Produktion zurückzieht, weil er „es vorziehen würde, das (d. h. die Anforderungen des Chefs erfüllen) nicht zu tun“.
Ein Mann mit einer Depression, einem Burn-out. Nur dass es diese Begriffe damals noch nicht gab. Und mit dem Unterschied, dass bei Voskuil nicht der Chef erzählt.
Überraschend ist nämlich, dass Maarten im Grunde auch gar keinen Bock auf seinen Job hat. Liest man „Das Büro“ mit neoliberal geschulten Augen, ist die Sinnlosigkeit seines Tuns ziemlich offensichtlich. Das Leben im Büro ist andererseits ziemlich bequem – das ganze Institut tut jahrelang so gut wie nichts. Druck von oben, Druck von innen: Fehlanzeige.
Das Institut für niederländische Volkskunde in Amsterdam ist eine Oase der Langeweile, ein Idyll mit Topfpflanzen und geregelter Mittagspause: Vom durcheffizientisierten Heute aus gesehen der Traum eines Arbeitsplatzes, für den man keinerlei Ausgleich, kein Fitnessstudio-Abo, keinen Yogakurs braucht. Eine stabilisierende Ehe im Hintergrund reicht.
Mürrischer Ehrgeiz
Maarten ist aber kein Totalverweigerer; nein, er entwickelt einen mürrischen Ehrgeiz, der ihn unter anderem dazu bringt, von oben angewiesenen Unsinn nach eingehender Prüfung abzuweisen. Nein, der zu erstellende Atlas ergibt so keinen Sinn. Das wird auf keinen Fall etwas vor Weihnachten, das wird Jahre dauern.
Dieser produktive Missmut, das sei verraten, wird Maarten sogar befördern. Sein Chef, Anton Beerta, scheint dessen Intelligenz, und das ist selten genug, von Beginn an zu schätzen: Nicht umsonst platziert er Maarten direkt an seiner Seite, als linke Hand im Chefbüro.
Dritte Überraschung: Der größte Widerstand kommt von außen, nämlich von Maartens Ehefrau Nicolien. Sie ist – und man rätselt als Leser lange, warum – von Anfang gegen die Arbeit. Sie sagt, sie sei Ausbeutung. Dass die Koonings links sind, wird erst allmählich deutlich; dass sie sich als zur Arbeiterklasse zugehörig empfinden und dass sie einen Anti-Nazi-Reflex pflegen, einen aus der Besatzungszeit kommenden Hass gegen alles, was „Nazi“ sein könnte, der bis zum profanen Deutschenhass führt.
Auch hier steckt eine Ambivalenz, die langsam entfaltet wird: der Gegensatz zwischen Linkssein und Bürokratie. Und der Gegensatz zwischen der Aufgabe des studierten Volkskundlers, einen Atlas für Volkskultur zu erstellen, ein Aufgabenbereich, der sich über die Sprache und den lokal benutzten Begriffen bis zu Mythen und Volkssagen über Elfen zieht, und seiner politischen Einstellung: dass nämlich Volkskunde an sich schon etwas Muffiges, Gestriges, etwas schlechterdings Rechtes ist.
Macken und Spinnereien
Besonders lustig ist eine Szene im ersten Band, als Maarten von Amsterdam aus in die Provinz Drenthe fährt, um mit den Abonnenten zu sprechen, mit denen, die fleißig die Fragebögen des Instituts ausfüllen. Basisarbeit im Saal eines Altersheims: Hier trifft Maarten tatsächlich einmal auf das Volk, das er erkunden soll. Er reagiert nachgerade allergisch.
Es sind solche Szenen, die den Reiz dieses Buchs ausmachen. Die kleinen Geschichten über die Macken und Spinnereien seiner immer menschlich und harmlos wirkenden Figuren – vom heimlich schwulen Chef über die herrische Sekretärin bis zu den renitenten Mitarbeitern und den von der Sinnlosigkeit des Lebens Geknechteten.
Darüber hinaus wird aber noch eine ganze Menge mehr erzählt. Von den Niederlanden samt Bewohnern, die ein verklemmtes Dasein im nun friedlich ausgehenden 20. Jahrhundert führen, vor Ende des Kalten Krieges, und in den ersten Bänden auch vor den Kulturrevolutionen der späten Sechziger.
Wer sich an die rheinische Republik erinnert, wird viel damit anfangen können. Alle anderen aber auch. Denn das spielt ja alles gleich im Büro nebenan.