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Roman von Charlotte RuncieTod eines Kritikers

#MeToo und Cancel Culture: Charlotte Runcie nimmt in „Standing Ovations“ die Machtdynamiken zwischen Kunst und Kritik in den Blick.

Menschen hinter Kunst und Kritik im Fokus: Die Handlung des Romans verläuft chronologisch, unterbrochen von Reflexionen und Erinnerungen Foto: imago/Shane Flanigan/ThisWeek

Der Starkritiker Alex Lyons hat nur 45 Minuten gebraucht, um die Comedyshow von Haley Sinclair zu verreißen. Als Sinclair die Kritik am nächsten Morgen liest, ist ihr klar: Ihre Karriere als Comedystar ist beendet, bevor sie überhaupt angefangen hat. Die zweite Erkenntnis trifft sie noch härter: Mit dem Typen, der sie in diesem Text so gnadenlos niedergemacht hat, hat sie gerade die Nacht verbracht.

Haley rächt sich. Sie benennt ihre Show in „The Alex Lyons Experience“ um, erzählt von ihrem Erlebnis und lädt andere Frauen ein, ihre Geschichten zu teilen. Die Show wird ein Hit, der Livestream geht viral, und Alex, eben noch gefeierter Kritiker, wird zum Symbol männlicher Arroganz und moralischer Orientierungslosigkeit.

Das ist die Versuchsanordnung, die die britische Kritikerin und Autorin Charlotte Runcie gleich zu Beginn ihres Debütromans „Standing Ovations“ entwirft, um in der folgenden Handlung Themen wie Macht, Moral und Verantwortung zu untersuchen. Ihre Sprache dafür ist präzise und pointiert, die Handlung des Romans verläuft chronologisch, wird aber von Reflexionen und Erinnerungen unterbrochen.

Runcie gelingt es, beide Seiten der Debatte um „Cancel Culture“ und „MeToo“ zu beleuchten, ohne einfache Antworten zu liefern. Ihr Kunstgriff: Sie rückt die Menschen hinter Kunst und Kritik in den Fokus – mit glaubhaft gestalteten Figuren mit Abgründen und Eitelkeiten, aber auch mit Humor.

Der Roman

Charlotte Runcie: „Standing Ovations“. Aus dem Englischen von Katharina Martl. Piper Verlag, München 2025, 336 Seiten, 25 Euro

Keine neutrale Erzählerin

Dazu kommt ein weiterer Kniff: Sie schaltet eine scheinbar neu­trale Beobachterin zwischen den Leser und die oben beschriebenen Ereignisse. Denn erzählt wird die Geschichte aus der Perspektive von Sophie Rigden, Alex’ Kollegin. Die, wenn auch nicht direkt in den Skandal um Alex eingebunden, natürlich alles andere als neutral ist.

Als „Junior Culture Writer“ arbeitet sie in einer sehr viel weniger privilegierten Situation als Alex. Sie ist unterbezahlt, bekommt wenig Anerkennung, und ist – im Gegensatz zu Alex – voller Selbstzweifel: „Vielleicht war ich langweilig. Vielleicht ging es mir wirklich mehr darum, dass die Leute mir zustimmten, als um das Schreiben. “

Dazu kommen private Probleme. Sophie, gerade aus dem Mutterschutz zurück, kämpft mit dem Verlust ihrer Mutter und einer Beziehungskrise. All das lässt sie Alex’ Absturz mit einer Mischung aus Distanz, Mitgefühl und Unsicherheit beobachten.

Alex wiederum, Sohn einer berühmten Schauspielerin, bleibt im Schatten seiner charismatischen Mutter und gefangen in männlicher Selbstüberschätzung. Obwohl er Haleys Botschaft zu verstehen scheint, weigert er sich, klein beizugeben. Seine „aufgewühlte Frustration“, sagt Sophie, zeigt, dass er insgeheim weiterhin glaubt, nicht völlig im Unrecht zu sein.

Ein Festival als Protagonist

Auch Haley, die scheinbare Gewinnerin, hadert. Sie kämpft mit der Verletzung, die Alex ihr zugefügt hat, und mit der Verantwortung, die ihr neuer Status als Heldin mit sich bringt. Albträume plagen sie, in denen sie auf offener Bühne Sex mit Alex hat. Zudem bleibt sie verschuldet: Die Einnahmen ihrer Blockbustershow fließen komplett an den Veranstalter.

Runcies Roman hat aber auch noch einen anderen Protagonisten: Das Edinburgh Festival Fringe, in dessen Rahmen sich die Handlung entfaltet, prägt die Dynamik des Romans wesentlich mit.

Als größtes Kulturfestival der Welt zieht es jeden Sommer Tausende Künstler an, die auf den großen Durchbruch hoffen. Seine menschliche Dichte und Präsenz bilden einen Gegenpol zur digitalen Flüchtigkeit eines Shitstorms. Hier begegnen sich die Protagonisten immer wieder, werden erkannt und direkt mit der öffentlichen Meinung konfrontiert.

Runcie, selbst jahrelang als Kritikerin auf dem Fringe unterwegs, kennt die aufgeladene Atmosphäre. Einmal wurde sie sogar Ziel einer Comedynummer – eine Erfahrung, die sie zu „Standing Ovations“ inspirierte, wie sie der Zeitung The Scotsman erzählte.

Wer hat nun gewonnen?

Am Ende von „Standing Ovations“ bleibt offen, wer wirklich gewinnt – oder ob es in diesem Spiel zwischen Beurteilung und Sein überhaupt Sieger geben kann. Runcie zeigt, dass Lob und Verrisse nur einen Bruchteil einer Person erfassen. Jede Kritik, jeder Shitstorm, jeder Übergriff trifft einen Menschen, der mit den Folgen leben muss.

Mancher mag sich mit dieser Thematik an den Hundekot-Skandal an der Oper Hannover vor gut zwei Jahren erinnert fühlen. Damals schmierte der Choreograf Marco Goecke der Kritikerin Wiebke Hüster während einer Aufführungspause Hundekot ins Gesicht. Ein geschmackloser, misogyner und erschreckend dummer Versuch, die Machtdynamik zwischen Kunst und Kritik umzudrehen.

Dass es auch klüger und kon­struktiver geht, zeigt Charlotte Runcies Roman.

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