Roman über bulgarischen Kommunismus: Der angenehme Kitzel der Macht
In „Die Sanftmütigen“ setzt sich Angel Igov mit den Ereignissen in Sofia um 1944 auseinander. Und liefert damit ein Stückchen Erinnerungskultur.
Korruption, Schnäppchen-Urlaub an der Schwarzmeerküste, Armenhaus Europas: Das sind nur einige der Stereotype, die vielen Deutschen zu Bulgarien einfallen – wenn ihnen zu diesem Thema überhaupt etwas einfällt. Auch zwölf Jahre nach dem Beitritt zur Europäischen Union ist der Balkanstaat noch immer eine Terra incognita. Das gilt historisch und politisch, aber nicht minder literarisch – sieht man einmal von Autoren wie Vladimir Zarev, Alek Popov und Georgi Gospodinov ab, die mittlerweile auch einem deutschen Lesepublikum zugänglich sind.
Ein wenig Licht in eines der dunkelsten Kapitel der jüngeren bulgarischen Geschichte bringt jetzt der Roman „Die Sanftmütigen“ von Angel Igov, der unlängst auch auf Deutsch erschienen ist. Wir schreiben das Jahr 1944, genauer gesagt die Zeit ab dem 9. September. In Bulgarien, seit drei Jahren stramm im Stechschritt an der Seite des Verbündeten Adolf Hitler unterwegs, wendet sich das Blatt.
Die sogenannte Vaterländische Front, die der späteren Machtübernahme der Kommunisten den Weg ebnet, putscht sich an die Staatsspitze, fast zeitgleich marschiert die Rote Armee ein. Jetzt ist das Terrain bereitet: für eine gnadenlose Abrechnung mit den Faschisten und für rote Banner tragende Emporkömmlinge, die sich den neuen Machthabern als willfährige Vollstrecker andienen und dabei über Leichen gehen. Und das alles in gutem Glauben, am Aufbau einer besseren Gesellschaft mitzuwirken – im Namen der Gerechtigkeit, des Fortschritts und des Volkes.
Ein Mensch mit Bedeutung
Auch dem Protagonisten des Romans, Emil Strezov, schlägt die Stunde, wobei seine Geschichte aus der Perspektive von seinesgleichen, einer Jugendbande, erzählt wird. Der mäßig begabte proletarische Jungpoet aus der Provinz, den es in die Hauptstadt Sofia und dort in das bitterarme Stadtviertel Jučbunar verschlagen hat, mutiert quasi über Nacht von einem Niemand zu einem Jemand.
Auch 30 Jahre nach der Wende ist die Epoche noch ein blinder Fleck
Als Mitglied der Volksmiliz und mit einer am Gürtel hängenden Pistole wird Strezov ein „neuer Mensch, ein Mensch mit Bedeutung“, der „den angenehmen Kitzel der Macht“ auf der Haut auskostet. Doch er ist zu Höherem bestimmt. Und so wird aus dem – juristisch völlig ahnungslosen – Mitläufer alsbald ein Funktionär in Gestalt eines Anklägers am sogenannten Volksgericht in Sofia.
162 Angeklagte müssen sich hier verantworten, von denen 100, meist ranghohe Vertreter des alten Regimes, am 1. Februar 1945 zum Tode verurteilt und eliminiert werden. Landesweit werden 11.000 Menschen Opfer dieser meist von Rache und Vergeltung getriebenen Pseudogerichtsbarkeit Stalin’scher Manier und gerade einmal knapp 1.500 Angeklagte freigesprochen.
Emil, ein jüdischer Freund von Strezov, der sich der Berufung an ein Volksgericht erfolgreich widersetzt, ist einer der wenigen, der dessen Weltbild, in dem Gut und Böse so eindeutig verortet zu sein scheint, ins Wanken bringt. Plastisch führt er seinem Freund vor Augen, dass Schuld, Sühne und Gerechtigkeit fluide Kategorien, ja Erscheinungen des jeweiligen Zeitgeistes sind, „der Monstrositäten wahrscheinlicher macht als andere und es fertig bringt, aus jedem einen Verbrecher zu machen, wenn er die Handhabe dazu hat“.
Herren über Leben und Tod
Allmählich dämmert auch Strezov das barbarische Ausmaß der Willkür derer, die sich zu Herren über Leben und Tod aufgeschwungen haben. Doch allen nagenden (Selbst-)Zweifeln zum Trotz ist er entschlossen, weiter daran mitzuwirken.
Als er einem Vorgesetzten sein Ansinnen vorträgt, auch für einen unscheinbaren zweitklassigen Literaten die Höchststrafe fordern zu wollen, ist dessen Reaktion so brüsk wie entlarvend: Wer er denn sei, dass er hier denken zu können glaube? Noch grün hinter den Ohren, aber mit Strafen um sich werfen; wissen wollen, wer schuldig sei. Ankläger im Namen des Volkes!
Am Ende bleibt die Frage, welche Rolle Emil Strezov in dem Schachspiel der Macht innehat. Es folgt die schmerzliche Erkenntnis: „Er hatte keine.“ Will heißen: Keine gestalterische. Woran sich die weitere Frage anschließt, ob der Umstand, ein Spielball der Mächtigen zu sein, von jeder Verantwortung entbindet.
Welches weitere Schicksal die Geschichte für Strezov vorsieht, wird den Leser:innen vorenthalten. Und so endet der Roman mit der Ankündigung des Erzählers, einen Roman über Strezovs Leben schreiben zu wollen. „Deine Nachbarn ums Eck, Schwarzfahrer der Geschichte, geduckt und leicht zu übersehen, mit zahllosen Augen begabt: die Sanftmütigen, die das Erdreich besitzen werden“, heißt es da.
Kein Platz in der kollektiven Erinnerungskultur
Dies ist eine Referenz an die Bergpredigt, die Passage enthält eine zentrale Botschaft dieses Romans. Denn Angel Igovs Kritik gilt dem Untertanengeist der „Sanftmütigen“ – und ihrem Glauben daran, dass denjenigen, die den Mächtigen widerspruchslos folgen und gehorchen, die Zukunft gehört. Zum Aufbruch in eine bessere Zukunft aber gehört die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Bulgarien jedenfalls blickt bis heute nicht zurück.
Und so ist auch 30 Jahre nach der Wende die Epoche des Kommunismus ein blinder Fleck, schamvoll beschwiegen, ohne Platz in der kollektiven Erinnerungskultur. Das hat fatale Folgen. Nicht nur Strezovs Geschichte gilt es weiterzuerzählen, sondern auch endlich ein Narrativ über den Kommunismus in Bulgarien zu schaffen und zu etablieren. Genau dafür braucht es Autoren wie Angel Igov. Und Übersetzer wie Andreas Tretner, die ihm auch in Deutschland eine Stimme geben.