Roman über Jugend in Moskau: Letzte Generation Sowjetunion
Trotz Unfreiheit wollten sie das Leben genießen. Die Autorin Kristina Gorcheva-Newberry erzählt von einer Jugend in den Achtzigern in Moskau.
Mit intensiven Bildern vom russischen Sommer beginnt dieser berückende Roman über eine große Freundschaft, der vielleicht gerade deshalb so eindrücklich geraten ist, weil er aus einer rückblickenden Perspektive verfasst wurde. Wir erleben die Geschichte gleichsam durch einen besonderen, rekapitulierenden und dabei (weitgehend) nostalgiefreien Vergangenheitsfilter, der alle Farben stärker zum Leuchten bringt und das Besondere in den Menschen, von denen erzählt wird, klarer strahlen lässt.
Kristina Gorcheva-Newberry, die in der Sowjetunion aufgewachsen ist und in Russland studiert hat, zog in den neunziger Jahren in die Vereinigten Staaten und wurde dort zur englischsprachigen Schriftstellerin. Sie hat den ProtagonistInnen ihres Romans viel vom eigenen Erleben mitgegeben. Denn auch sie war ein Teenager in der Sowjetunion der achtziger Jahre, genau wie Anja, die Ich-Erzählerin des Romans, und Milka, deren allerbeste Freundin seit der ersten Klasse.
Anja und Milka verleben als Kinder herrliche Sommer auf der Datscha von Anjas Eltern, in selbstverständlicher, inniger Nähe zu einander und zur Natur. Auch als Teenager teilen die Mädchen noch alles, sogar den ersten Zungenkuss, und entdecken mit Hilfe der jeweils anderen ihre Körper.
Die Viererbande der Freund:innen
Als sie sechzehn sind, organisiert Milka eine angebliche Geburtstagsparty, damit Anja Gelegenheit bekommt, ihre Unschuld zu verlieren. Milka selbst verfügt bereits über einschlägige Erfahrungen, bewahrt aber Stillschweigen über die genauen Umstände. Wenn Anja später versteht, warum die Freundin schwieg, wird es zu spät sein, um eine Katastrophe zu verhindern.
Kristina Gorcheva-Newberry: „Das Leben vor uns“. Aus dem Englischen von Claudia Wenner. C. H. Beck, München 2022. 359 Seiten, 25 Euro
Die kleine Party aber ist zunächst der Beginn einer wunderbaren, wenngleich keineswegs konfliktfreien Freundschaft zu viert. Die beiden Jungen, die nun dazugehören, könnten kaum unterschiedlicher sein: Der große und kräftige Lopatin, der aus einer Funktionärsfamilie kommt, ist auch in seinem Verhalten oft ungeschlacht und setzt nicht auf Intellekt, sondern auf Stärke, um im Leben weiterzukommen. Der schmächtige, mit Asthma geschlagene Trifonow dagegen, der bei einer alleinerziehenden Mutter aufwächst, hat alle Bücher gelesen, die es gibt, und liebt insbesondere Anton Tschechows „Kirschgarten“.
Mit diesem Tschechowschen Drama hat es seine besondere Bewandtnis. Immer wieder taucht es im Roman auf, so oft, bis auch die letzte Leserin und der letzte Leser begriffen haben, dass es als literarische Folie für den Roman im Hintergrund durchschimmert.
Sogar ein Tonband wird eingeführt, auf dem die vier Jugendlichen ihre Version des „Kirschgartens“ aufgenommen haben – in jeweils den Rollen, die ihren eigenen Charakteren am besten entsprechen. Der herrliche Apfelgarten, den Anjas Eltern bei ihrer Datsche im Moskauer Vorort hegen und pflegen, übernimmt im Roman die Rolle und die (Verlust-)Symbolik von Tschechows Kirschgarten.
Eine Heimat, die nicht mehr existiert
Verlusterfahrungen sind ein großes Thema im Roman, darunter nicht zuletzt die Erfahrung, die alte Heimat verloren zu haben, die sich in etwas völlig anderes verwandelt habe, erklärte Gorcheva-Newberry in einem Interview mit dem Washington Independent. Dieses Verlusterlebnis hat sie, die seit 1995 in den USA lebt, auch ganz persönlich durchgemacht.
Während der erste Romanteil von den Freuden und Herausforderungen einer sowjetischen Jugend handelt, spielt der zweite, deutlich kürzere über zwanzig Jahre später und erzählt davon, wie eine inzwischen vierzigjährige Anja, die seit zwanzig Jahren nicht mehr in Russland war, nach Moskau fliegt, um ihre gealterten Eltern dabei zu unterstützen, die Datschensiedlung mit dem Apfelgarten gegen die Begehrlichkeit eines Investors zu verteidigen, der auf dem Gelände neu und teuer bauen will. Dabei trifft sie alte Bekannte wieder, und alte Traumata leben auf …
Dieser zweite Teil, der in den USA beginnt und in Moskau endet, ist funktional eher eine Art Epilog. Die Schilderung von Anjas amerikanischem Leben mit ihrem Ehemann Mike bleibt blass. Der Gatte wird als beinahe klischeehafter Musteramerikaner vorgeführt (breitschultrig, tatkräftig, zuverlässig). Ein ziemlicher Langweiler eigentlich, verglichen mit den eigensinnigen sowjetischen Jungmännern aus Anjas Jugend – dieser Jugend, die es trotz aller politischen Unfreiheit und der bescheidenen ökonomischen Verhältnisse unbedingt zu genießen galt, auch wenn „wir wussten, dass unser Schicksal in den Händen der Kommunistischen Partei lag und so unwiderruflich war wie der Mond und die Sterne, wie das Leben selbst“.
Politische Diskussionen überlässt diese Jugend der Elterngeneration und konzentriert sich darauf, das Leben zu feiern, wie es nun einmal ist. Nur eben nicht mit Chips und Bier wie Gleichaltrige im Westen, sondern mit eingelegten Gurken, Dosenfisch und Wodka. Dazu hört man Queen und Wiktor Zoi, liest sich gegenseitig Tschechow vor und hat während der Klassenfahrt auf die Krim Sex im Schwarzen Meer. Und obwohl das alles ebenfalls einigermaßen klischeehaft klingt, wird es wohl so – oder so ähnlich – gewesen sein.
Denn die Autorin spinnt das Treiben der letzten Generation Sowjetjugend in so leuchtenden Farben und funkelnden Details aus, wie es nur eine kann, die live dabei gewesen ist. Von Sowjetnostalgie kann dabei keine Rede sein. Vielmehr liegt ein zärtlicher Hauch von Trauer über allem; und das Private ist dabei unbedingt auch politisch zu lesen. Es ist eine auch wütende Trauer über das, was hätte werden können, wenn nicht alles so gekommen wäre, wie es gekommen ist.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Müntefering und die K-Frage bei der SPD
Pistorius statt Scholz!
Unterwanderung der Bauernproteste
Alles, was rechts ist
Rentner beleidigt Habeck
Beleidigung hat Grenzen
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus
Krieg in der Ukraine
Russland droht mit „schärfsten Reaktionen“
Aktienpaket-Vorschlag
Die CDU möchte allen Kindern ETFs zum Geburtstag schenken