Roman „Kotmörtel“ von Thomas Kapielski: Weltweisheit und Weltdoofheit
Irrwitziges geschieht, die Story schwankt vor sich hin. Thomas Kapielski hat einen schrägen neuen Roman geschrieben.
„Kotmörtel – Roman eines Schwadronörs“, so nennt Thomas Kapielski seinen zweiten Roman. Roman? Ja und nein, denn alles mögliche kann heute ein Roman sein, und „Kotmörtel“ ist dann eher eine umfangreiche, lang(wierige) Geschichte, die Frowalt, Heimweé, Irrgang Hiffenmarkt – so nennt Kapielski seinen Erzähler – mit vielen Einzelheiten, Anekdoten, Lebensweisheiten, philosophischen und anderen teils flüssigen, teils überflüssigen Einsichten sowie etlichen Vor- und Rückblenden vor uns ausbreitet.
Der Mann, von Beruf Vertreter für Bürsten, nebenbei Schriftsteller und Bahnhofvorplatzredner, sitzt in U-Haft wegen eines Verbrechens, das ihm nicht bekannt ist und auch nicht bekannt wird in dem Jahr seiner Einzelzelle. Danach wird er entlassen, nichts ist geklärt, doch er ist geläutert, geheilt und ein besserer Mensch.
Zweite Hauptperson: Hauptkommissar Rufus Röhr, womöglich verwandt mit dem Bamberger Kommissar Rochus Röhr aus Kapielskis erstem Roman „Je dickens, destojewski!“ (2014). Rufus Röhr agiert insbesondere im dritten, mit „Die Lösung“ überschriebenen Teil des Buchs; davor kamen „Der Alltag“ und „Das Verbrechen“.
In beiden wird vor allem erzählt, doch im dritten Teil wird endlich, wie es sich für einen richtigen Roman gehört, viel geredet, dialogisiert. Der Kommissar wird dabei vom Verhörer und Zuhörer zum Erzähler, eigentlich zum Klagenden und Weltweisen, der über alles mögliche sinniert, vor allem wie schlecht heute alles steht und sich entwickelt.
Hiffenmarkt und Röhr bilden das Personal des Romans, und natürlich ist Kapielski weder der eine noch der andere, dann schon eher beide zusammen, denn so manches, was die zwei mitteilen, hat man bereits in älteren Kapielski-Texten vernommen. Insofern ist dieser Roman sehr deutlich eine weitere Darlegung von Ansichten und Vorstellungen des Autors.
Frauen spielen im Buch eine besondere Rolle
Eine wirkliche Entwicklung der Personen findet trotz der „Heilung“ Hiffenmarkts nicht statt. Frauen kommen nur als verständige, doch eigenwillige Ehefrau Dietlinde vor und als doofe Stieftochter, genannt „Die Dicke“; sodann noch Frau Lehmann, die den ganzen Schlamassel auslöst, in den Hiffenmarkt gerät, denn er fällt auf ihre anziehende Erscheinung herein und übernimmt am Bahnhof Schweinfurt angebliche Geburtstagspäckchen, die er abgeben soll in seiner Heimatstadt Grollstadt-Sauger beim Ehemann der Lehmann.
Dazu kommt es nicht, denn am Bahnhof wird er verhaftet. Frauen spielen im Buch eine besondere Rolle, sie sprechen nicht, aber ihrer wird immer wieder gedacht – vordergründig lustig, hintergründig zuweilen ziemlich ätzend.
Das Buch ist in überschaubare Artikel gegliedert, die kürzeren unter einer Seite, die ausführlichen etwas länger. Dies macht das Lesen leicht, doch sei hier gewarnt, denn besser man lese täglich nicht mehr als 20 Seiten, so meine Erfahrung, das Ketten-Lesen lässt die Lektüre redundant, mitunter sogar zäh werden. Lesen in Häppchen hingegen führt die tiefgründigen und kuriosen Überlegungen des Verfassers besser zu Gemüt und die Textillustrationen Hiffenmarkts (alias Kapielskis) vor Augen.
Dann entdeckt man in all dem Genörgel und Gejammer über die Verkommenheit und Verwahrlosung der Jugend, dem Schwadronieren über die allgemeine Dummheit und Dämlichkeit der Zeitgenossen immer wieder auch wunderbare Einsichten.
Eine Art von Retro-Moderne
Es gibt etwas Jean-Paul-Artiges im Stil Kapielskis, der das moderne Leben, auch die Kunst der Gegenwart ablehnt und dabei doch ein Teil davon ist als Autor und bildender Künstler. Er frönt einer Art von Retro-Moderne, flieht dahin, wo die Moderne begründet wurde, und hat demnach seinen Stil an Autoren der Romantik (und noch älteren) geschult.
Thomas Kapielski: „Kotmörtel – Roman eines Schwadronörs“. Suhrkamp Verlag, Berlin 2020, 410 Seiten, 20 Euro
Das heißt, er ahmt nach, imitiert Literarisches und Theologisches seit dem Barock und bis ins 18. Jahrhundert – vor allem Fouqué, Storm, Hölderlin werden zitiert, auch Nietzsche, um eben dann endlich ein wenig ähnlich zu schreiben wie jene oder Jean Paul, und diese Autoren lobt er und will nichts mit dem „Alltags-Gestammel des 20. u. 21. Jahrhunderts“ zu tun haben, wie er sagt, und hat es natürlich doch, da er dem altertümlich künstlichen Stil andauernd Alltagssprache und Jargon untermischt, also etwas schafft, das hybride und paradox ist.
Solches Geschreibe wird zur Parodie, und die ist bei Kapielski oft komisch und unterhält durch Überraschung. Er ist Wortjongleur und „Schwadronör“, immer im Balanceakt zwischen Weltweisheit und Weltdoofheit, einer, der aus Neukölln in die Welt gegangen ist … vor allem nach Franken – warum dies? –, aus alter Treue zu Bamberg und Umgebung und seinen Bieren und Leberkässemmel. Bei „Leberkässemmel“ und anderen Wort-Trouvaillen finden dann Sprachbesichtigungen statt, um die das Buch zu loben ist.
Aber sonst, viel zu oft wird es schrecklich altertümlich und nörgelnd weltverbessernd, wenn sich Hiffenmarkt und Röhr über Themen wie Erziehung, jung sein, Gesundheit oder Beziehungen auslassen – schwer zu ertragen. Hier spricht ein Kulturpessimist, der einst lustig behauptete: „Heute ist besser, früher war schöner!“ Nun heißt es nur noch quengelnd: „Früher war besser!“
In jungen Jahren ein Nichtsnutz
Was Kapielski via Hiffenmarkt/Röhr der Jugend nicht alles vorwirft und nachträgt, als sei er nicht selber jung gewesen? Nur einmal erwähnt er, dass er ein Nichtsnutz gewesen sei in jungen Jahren.
Es drängt sich die Frage auf, für wen der Autor seine Moralepisteln hält? Die GEW oder junge Eltern wird er kaum erreichen, junge Leute werden eher einen Bogen um die verquälten Stellen des Buchs machen, das durchströmt ist von Erfahrungswerten eines Spätjugendlichen. Denn wer wie Kapielski auf die 70 zusteuert, war doch generationsbedingt immer zu einer Art ewiger Jugend verdammt: erst spät oder nicht wirklich erwachsen zu werden.
Da wünschte man dem Autor mehr Abstand zu sich selbst (vergeblich wahrscheinlich). Und noch so ein alter Hut bei ihm ist dieses „dass darf doch gesagt sein, weil es stimmt“ … zum Beispiel das N-Wort. Da beharrt einer auf seiner nur noch sturen Erkenntnis. Da bleibt er sich treu und wird dabei dumpf.
Doch dann ist der Text wieder überraschend und lesenswert, wenn die Story in sich und vor sich hin schwankt und in Sauger (Neukölln?) und in Meppen spielt, wo der Erzähler ein heimliches Schreib-Refugium besitzt, wo Irr-witziges geschieht und Hiffenmarkts Kalamitäten nach einem pedantischen Ordnungssystem niedergeschrieben werden – in solchen Passagen ist Kapielski unschlagbar komisch!
Fast alles ist paradox in diesem Buch
Ein richtiger Roman ist es nicht, egal – selbst das gehört zum Grundthema dieser Schrift: der Frage nach der Paradoxie … denn fast alles ist paradox in diesem Buch! Und so ist Kapielskis Stil so klar wie verdreht, der Inhalt so komisch wie dumpf, dumm und klug zugleich, in lauten wie in leisen Tönen. Das Leben als Paradox – darin liegt eine Erkenntnis und Weisheit, die da differenziert/undifferenziert auf 410 Seiten mitgeteilt wird.
Das kann er, doch stört das Übermaß an transformierter Autorität, denn die „Klagemauer Kapielski“, dem fast alles an der modernen Welt missfällt, übersieht, wie viel sie ermöglicht und gestattet. Ein Autor sollte nicht Moralvorstand und Anstandswauwau für die Nachkommen sein, zumal neben sprachlicher Schönheit eine Hö-hö-Stammtisch-Sprache existiert, die provozieren soll, dies aber so gut wie nie tut.
Es ist ein schräges Buch, das der Autor da vorlegt, man darf gespannt sein, wie es mit ihm weitergeht. Ach so, Kotmörtel? Das ist die Ausscheidung der Fliegen, die Hiffenmarkt in U-Haft umschwirren und beständig beim Denken belästigen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei
Erderwärmung und Donald Trump
Kipppunkt für unseren Klimaschutz
EU-Gipfel zur Ukraine-Frage
Am Horizont droht Trump – und die EU ist leider planlos
Streit um Russland in der AfD
Chrupalla hat Ärger wegen Anti-Nato-Aussagen