Roman Ehrlichs Roman „Videotime“: Der Horror in der Kleinstadt
In Roman Ehrlichs Gesellschaftsporträt blickt der Erzähler auf seine Jugend zurück. Das seltsame Verhalten der Erwachsenen erklärt er sich mit Actionfilmen.
Was könnte trauriger sein als der Blick auf eine verlassene Blechbaracke, die einmal einen Sehnsuchtsort beherbergt hat? Mit einem solchen Blick beginnt Roman Ehrlichs Roman „Videotime“. Ein guter Anfang. Denn neben aller Traurigkeit setzt so ein Ort einleuchtend Erinnerungen frei.
Um Erinnerungen geht es. Wir sind in einer Kleinstadt in Bayern. Ein Ich-Erzähler kehrt an den Ort seiner Jugend zurück, um seinen Vater zu besuchen – was zunächst nach einem autofiktionalen Standardplot klingt. Doch das hier ist keine Autofiktion, und mit der Originalität wird es sich entwickeln. Es gibt in dieser Kleinstadt einen Autohandel, einen Tennisclub, Einfamilienhäuser, einen Elektrohandel, eine Konditorei, ein paar Hochhäuser mit migrantischen Bewohnern, etwas weiter entfernt ein Gefängnis – in dem der Vater, ein herrischer Mensch, der seinen älteren Sohn zum Tenniscrack dressieren wollte und zu seinem jüngeren Sohn, dem dicklichen Ich-Erzähler, nie recht Kontakt gefunden hat, als Justizbeamter arbeitete. All das werden wir beim Lesen kennenlernen.
Und es gibt diese Blechbaracke. Aus ihr leuchtete früher die Videothek, nach deren Namen „Videotime“ der Roman nicht umsonst betitelt ist: „Die Videothek war ein Raumschiff, das in der Kleinstadt, in der Wohnsiedlung am Stadtrand, gelandet war. Und es brachte den Kleinstadtbewohnern Nachrichten aus phantastischen Welten: fremde Orte, verstörende Bilder, Gewalt, Sex, Sternenkrieg, Dinosaurier, schnellen Witz und unendlichen Verweisreichtum.“
Milde ist der Roman gewiss nicht
Erinnerungen, Coming-of-Age, die Videothek als Wunschmaschine in einer deprimierenden Umgebung: Von da aus könnte man in diesem Roman einen sentimentalen, auch milden Blick zurück in eine Jugend in den 90er Jahren erwarten, aus der sich herauszuträumen allein die Videothek Gelegenheit bot. Doch das ist nur der Anfang, und milde ist dieser Roman ganz gewiss nicht. Roman Ehrlich macht etwas erzählerisch Waghalsigeres. Er stellt die Realität, in der der Erzähler aufwächst, und die von ihm mit komischer Genauigkeit nacherzählten Filme nebeneinander. Und irgendwann steht die Kleinstadt in ihrer vordergründigen Normalität erklärungsbedürftiger und hinter den Fassaden auch gewaltsamer da als der abgedrehteste Horror- oder Actionfilm.
Mehr noch, erst die Filme bieten dem Erzähler Erklärmuster und handhabbare Bilder, um das seltsame Verhalten der Erwachsenen zu verstehen, die, so stumm wie verbissen, sich selbst das Leben als Paare und darüber hinaus auch das Leben ihrer Kinder in der Kleinstadt schwer machen, offenbar ohne darüber auch nur nachzudenken.
Roman Ehrlich: „Videotime“. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2024. 368 Seiten, 26 Euro
So ist „Videotime“ eine Reise ins Herz der Finsternis, ein dunkles Gesellschaftsporträt. Er wollte in der Videothek „mehr schauen, mehr gezeigt bekommen, was sich anderswo abspielte, wo der Verkehr nicht beruhigt war und das Leben entsprechend entfesselt“, erinnert sich der Ich-Erzähler. Am Schluss des Romans hat er allerdings entdeckt, „dass sich diese Filme und die in ihnen dargestellten Figuren nur allzu gut dazu eigneten, eine dunkle Dynamik, die in den Verhältnissen unserer Eltern am Werk war, zu veranschaulichen“.
In der cineastischen Mainstreamkultur der 80er und 90er Jahre ist dieser Roman dabei gut informiert. Filmstills solcher Klassiker wie „Natural Born Killers“, „Possession“, „The Thing“, „Total Recall“ oder „Universal Soldier“ strukturieren die Abschnitte. Die Nacherzählungen der Handlungen halten das schiere jugendliche Staunen über die Gewaltdarstellungen in den Filmen fest. Wunderbar kann Roman Ehrlich die Peinlichkeit einfangen, die sich einstellt, wenn zwei pubertierende Jugendliche nebeneinander auf dem Sofa sitzen und sich der Film, den sie sich ausgeliehen haben, als Porno herausstellt, während jeden Augenblick die Mutter ins Zimmer kommen kann. Und was Jean-Claude van Damme und Arnold Schwarzenegger für unwahrscheinliche Körperdarsteller waren, wird genauso einleuchtend beschrieben wie das coole Jungsgehabe, wenn ein Wrestlingfilm angeschaut wird.
Ein Erzähler mit leicht zusammengekniffener Stirn
Überhaupt die Sprache. Der Roman ist in einer leicht umständlichen, dabei aber sehr genauen Sprache erzählt. Kein Jugendlichenslang in der „Fänger im Roggen“-Tradition, sondern akribisch, als müsse sich dieser Erzähler wie mit stets leicht zusammengekniffener Stirn erst einmal selbst klarmachen, was er da sieht oder woran er sich erinnert. Dabei haben viele Formulierungen einen untergründigen Witz. „Ich fand in mir kein ausgeprägtes Interesse für irgendeine Form von Lohnarbeit.“ Solche hübschen Formulierungen finden sich häufig.
Und die Details sind stets sorgfältig gesehen. Man kann die Wohnung, in der Ozan Kovačevski, ein Freund des Erzählers, mit seiner Mutter und seiner Schwester lebt, förmlich riechen, genauso wie den „Handschweiß der Generationen“, der sich in den Boxhandschuhen festsetzt, die der Erzähler in der Nachmittagsbetreuung anzieht. Außerdem enthält der Roman die schaurig-lustigsten pubertären Liebesszenen der jüngeren Gegenwartsliteratur; eine Zeit lang sieht der Erzähler dann auch die Filme mit den Augen eines Mädchens, das den wunderbar albernen Namen Lotta Continua trägt.
Spätestens beim zweiten Lesen fällt einem auf, wie genau das alles erzählerisch verschraubt ist. Die dickste Villa in der Kleinstadt hat der Besitzer des Autohauses, das Leben darin wird als so entfremdet geschildert, dass sich die Unfall- und Körperfantasien des Films „Crash“, die gegen Ende des Romans eine große Rolle spielen, dagegen vernünftig ausnehmen. Und die Idee, dass sich in solchen Filmen eine Wahrheit des Erwachsenenlebens zeigen könnte, ist in dem Verdacht gespiegelt, dass in Fernsehgeräten etwas ins Gefängnis geschmuggelt werden könnte. Der Ich-Erzähler, der gerade ein Praktikum im Elektrogeschäft absolviert, wird hingeschickt und muss die Fernseher auseinanderschrauben. Bei der Gelegenheit sieht er seinen Vater zum ersten Mal als Aufseher.
Kontinuierliche Gewaltverhältnisse im Hintergrund
Je näher der Erzähler seinem Vater kommt, desto konsequenter laufen die Erzählstränge auf einen Hintergrund kontinuierlicher Gewaltverhältnisse zu, im Film wie im Leben. Über das Gangsterpaar Mickey und Mallory Knox in „Natural Born Killers“ nachdenkend, kommt der Erzähler darauf, dass seine Eltern, die sich inzwischen getrennt haben, über das „verbindende Element ihrer kriegerischen Väter zueinandergefunden haben“ könnten. Beide Großväter wurden im Zweiten Weltkrieg mehrfach verwundet und blieben in der Bundesrepublik „tief gekränkt darüber, dass ihnen ihr Dienst am Vaterland nie gedankt“ wurde. Der Roman schafft es, einen an dieser Stelle zutiefst erschrecken zu lassen – nicht über den Revanchismus, den kennt man ja, sondern über die Vorstellung, dass das alles in vielen Haushalten der Bundesrepublik tatsächlich niemals ernsthaft besprochen worden ist.
Der wahre Horror ist die Normalität? Das so platt auf den Punkt zu bringen würde der erzählerischen Kunstfertigkeit, mit der Roman Ehrlich vorgeht, nicht gerecht. Aber dieser Roman bringt einen dazu, so einen Gedanken beim Lesen ständig im Kopf zu haben und gleichzeitig immer wieder neu über die Wendungen zu staunen, die er zwischen Film- und Alltagsbeschreibungen bereithält. Normalität noir, kunstvoll erzählt.
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