piwik no script img

Roman „Der Boulevard des Schreckens“Träume eines Volontärs

Ausgedachte Interviews, koksende Chefredakteure – gibt's das? Satiriker Moritz Hürtgen schreibt über die finstere Welt des Journalismus.

Wahrheit und Fiktion in der Medienszene liegen bei Moritz Hürtgen nicht weit auseinander Foto: Felix Schmitt

Berlin taz | Der Chefredakteur kokst mitten im Newsroom, und jeder kann es sehen. Egal. Die anderen koksen auch. Die meisten jedenfalls. So geht es zu in einem großen Medienhaus in Berlin, das neben einer sogenannten seriösen Zeitung auch noch ein Boulevardblatt herausgibt. Oder ist es umgekehrt? Nein, so schlimm kann es gar nicht sein.

Der das geschrieben hat, ist als Satiriker bekannt geworden. Der übertreibt. Etwas anderes wird sich kaum jemand erwartet haben von Moritz Hürtgens erstem Roman „Der Boulevard des Schreckens“. Der Autor war bis vor Kurzem Chefredakteur des Satiremagazins Titanic. Der weiß nun wirklich, wie man auf die Kacke haut.

Oder gibt es das wirklich? Dass jemand im Journalismus Karriere macht, der auch deswegen zu Ruhm gekommen ist, weil dann doch herausgekommen ist, dass unter seiner Führung ausgedachte Interviews mit Superpromis in einem seriösen Magazin erschienen sind? Ein Interview mit Osama bin Laden, nein, das hat sich keiner für ein deutsches Medium ausgedacht. Das wäre doch zu viel des Guten. So etwas gibt es wirklich nur im Roman.

Und wie sieht es mit diesem journalistischen Jungvolk aus? Gibt’s das? Kann es sein, dass halb begabte Ehrgeizlinge, die vom großen Coup träumen, jeden Anstand über Bord werfen, nur um zu bedienen, was der Chef gerade hören möchte?

Das Buch

Moritz Hürtgen: „Der Boulevard des Schreckens“. Kunstmann-Verlag, München 2022, 304 Seiten, 24 Euro

Irrsinn im Münchner Speckgürtel

Dass einem Chefredakteur aus seiner zugekoksten Nase der Hass nur so heraustropft, wenn er an einen Performance-Künstler denkt, die „nervige Lyrik-Schwuchtel“, der schon deswegen nichts taugen kann, weil diese ewig linksliberalen Schreiberlinge auf der ganzen Welt, auch die von der New York Times, nur das Beste über ihn zu sagen haben? Es sind solche Fragen, die sich gleich zu Beginn des Romans aufdrängen, bevor der Irrsinn beginnt, den Hürtgen in einem Örtchen im Münchner Speckgürtel mit S-Bahn-Anschluss aufführen lässt.

Aus jenem Kirching stammt der Künstler, der es zu Weltruhm gebracht hat. Der hat Großes vor in München, und der Volontär Michael Kreutzer darf auf Redaktionskosten dorthin reisen, um jenen Moretti, den er vom Studium gut kenne, wie er dem Chef versichert hat, zu interviewen. Der aber lässt ihn abblitzen, ist dann gar nicht mehr erreichbar, wird tot am Bahndamm in Kirching aufgefunden, wohin der Volontär umgehend entsandt wird.

Das Interview mit Moretti, das er sich in der Not mal eben ausgedacht und der Redaktion geschickt hat, gewinnt mit jedem Ereignis in Kirching an Bedeutung. Und derer gibt es etliche. Der Volontär wird so zum Star.

Terror im Kaff

Ist wirklich der Terror über dieses Kaff hereingebrochen? Es fließt viel Blut in dem Vorort mit den üppig gewässerten Vorgärten. Leichen in der Fischzucht. Ein ferngesteuertes Feuerwehrfahrzeug, das bei der traditionellen Sonnwendfeier in die Menschenmenge rast. Fliegende Fische, die in der Luft explodieren. Eine Bürgerwehr, die von einem ehemaligen Lokalreporter gegründet wird, der ein systemkritisches Blog betreibt, patrouilliert.

Blut fließt. Eine Bürgerwehr patrouilliert.Was gibt es Schöneres für den Boulevard!

Islamistischer Terror soll von der anderen Seite des S-Bahn-Damms ausgehen, heißt es. Von Neukirching aus, wo Leute leben, die sich kein Haus mit Vorgarten leisten können. Ein Grenzzaun wird hochgezogen. Polizeihubschrauber kreisen. Was kann es Schöneres geben für den Boulevard! Ein Traum.

Nur ein Traum? Der Volontär, er hat Erscheinungen. Ein Fluch scheint auf ihm zu lasten. Würde das auch passieren, wenn es ihn nicht gäbe? Was Hürtgen schreibt, ist ein Fantasy-Roman aus der finsteren Welt des Journalismus. In dieser herrscht der pure Schrecken. Weil das bisweilen nicht nur im Roman so ist, kann man das Buch durchaus als Mahnung lesen. Oder zum Vergnügen.

Da war schließlich ein gelernter Satiriker am Werk.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

0 Kommentare

  • Noch keine Kommentare vorhanden.
    Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!