Roman „18 Kilometer bis Ljubljana“: Ordentlich, sauber und trist
Der Roman von Goran Vojnović erzählt vom Leben in der postjugoslawischen Metropole Sloweniens. Das Land ist Gastland der Frankfurter Buchmesse.
Die Frage, wer dazugehört und wer nicht, ist keine deutsche Spezialität. Janez oder Tschefur, echter Slowene oder Eingewanderter – auch in der nördlichsten und reichsten der ehemaligen Republiken des sozialistischen Jugoslawiens sind Ausgrenzung, Stigmatisierung und Rassismus Teil des Alltags.
Analog zum deutschen „Michel“ werden die Slowenen ironisch-herablassend „Janez“ genannt. Gemeint sind damit jene, die dem Bild entsprechen, das Slowenien gerne selbst von sich hat: ordentlich, sauber, korrekt, zurückhaltend, leise, fleißig. „Tschefur“ hingegen werden die Arbeitsmigranten genannt, die aus den ärmeren Teilen Jugoslawiens ins reichere Slowenien auswanderten.
Von diesem Milieu und davon, wie es ist, in ein Zuhause zurückzukehren, was nie ein Zuhause war, handelt „18 Kilometer bis Ljubljana“. Es ist der neue Roman des slowenischen Filmemachers und Autors Goran Vojnović. Im Mittelpunkt steht Marko Đorđić, Kind von bosnisch-serbischen Arbeitsmigranten in Ljubljana, genauer: Fužine.
Ein Nichts und Niemand
Letzteres ist ein Stadtteil der slowenischen Hauptstadt, in dessen Hochhäusern in der Zeit des Sozialismus vor allem Tschefuren wohnten. „Ich bin ein Nichts und ein Niemand. Marko Đorđić. Zwei đ und ein weiches ć. Und Punkt. Ist das klar?“, lässt Vojnović seinen Protagonisten gleich am Anfang des Romans sagen.
Goran Vojnović: „18 Kilometer bis Ljubljana“. Aus dem Slowenischen von Klaus Detlef Olof, Folio Verlag, Bozen/Wien 2023, 319 Seiten, 26 Euro
Und damit sind die Parameter der Erzählung gelegt: Er handelt von der Verlorenheit und Fremdheit von Menschen, die es nicht „geschafft“ haben, immer abhängig vom Wohlwollen anderer Leute und stigmatisiert, nichts Halbes und nichts Ganzes zu sein. Der Roman ist die Fortsetzung von Vojnovićs Debüt „Tschefuren raus“. Auch in diesem stand Marko Đorđić im Mittelpunkt, allerdings dessen Kindheit und Jugend. Im neuen Roman ist Marko, der als Rausschmeißer im Club „Džungla“ gearbeitet hat, 27 Jahre und kehrt nach zehnjähriger Abwesenheit nach Fužine zurück.
Facebook-Langeweile
Vojnović lässt seinen Antihelden nun davon berichten, wie sich dieses einstige Arbeiterviertel für die Ausländer verändert hat. Im „Billigbau für billige Leben“ füllten früher Kinder, Jugendliche, Kleinkriminelle und Arbeiterfamilien die Gegend mit Leben und Graffiti. Heute herrscht dort nur noch Langeweile, weil unter anderem das Beschwerdebuch nicht mehr der Lift ist, den man mit seinen Hassbotschaften vollkritzelt, sondern Facebook.
Und, weil es irgendwann als cool galt, dort zu wohnen, was die Mieten in die Höhe und die Ureinwohner anderswohin trieb. Vordergründig kommt Marko zurück nach Fužine, weil sein Vater eine Krebs-OP vor sich hat. Der eigentliche Grund aber ist, dass er aus Bosnien fliehen musste, weil er mit der Frau eines einflussreichen Mafiosos im Bett war.
Marko trifft jetzt seine alten Freunde aus dem Viertel, von denen einige Junkies, andere Wahhabiten wurden, wieder andere im Gefängnis leben, weil sie dort nicht kochen und anderen den Arsch abwischen müssen, um Geld für Essen und Miete zu verdienen.
Ausnahmslos alles rund um die Figuren des Romans ist trist, unglücklich, kaputt. „Dreißig Jahre lang hat sich Radovan bemüht, in diesem beschissenen Slowenien jemand und etwas zu werden. Und jetzt sitzt er da und wartet wie der größte Looser“, beschreibt Marko seinen Vater, der keine Beziehungen hat, weswegen er im Krankenhaus stundenlang auf einer Bank sitzen und warten muss, bis ihn jemand untersucht. Ein Tschefur ohne Beziehung aber gilt nicht als „richtiger“ Tschefur.
Leitwährung Beziehungen
Nicht, wer einen normalen Job hat, sondern wer Beziehungen hat, hat es geschafft, gilt als erfolgreich. Beziehung, das ist auf dem Balkan die wichtigste Währung. Wegen Beziehungen muss Marko im Laufe seines Aufenthalts einen Transporter über die Grenze schmuggeln, von dem er glaubt, dass in seinem Kofferraum gefesselte Afghanen liegen. Und wegen Beziehungen von anderen kann er bis auf Weiteres nicht mehr nach Bosnien zurück. Sein bosnischer Freund Jovan informiert ihn, dass er warten muss, bis die Regierung wechselt.
Der Mafiosi Spasić, mit dessen Frau Marko im Bett war, hatte nämlich inzwischen seine Beziehungen spielen lassen und Markos Akte bei der Polizei enthält nun neben Kleindelikten wie Einbrüche und Schlägereien auch noch Verbrechen, die er nie begangen hat.
„Er konnte nichts tun“, sagt Marko seinem Informanten Jovan. „Er arbeitet nur bei der Polizei, ihm gehörte die Polizei nicht, geschweige denn der Staat. Der Staat gehörte einem Kumpel von Spasić.“ Allein diese herrlich unverschnörkelte Ironie, mit der Vojnović schreibt und in der nichts als die Wahrheit über die Lage des Rechtsstaats in den Folgerepubliken Jugoslawiens steckt, macht die beschriebene Tristesse und Ausweglosigkeit von Marko, seiner Familie und seinen ehemaligen Kumpels erträglich.
Derbe Sprache
Vojnović beweist wie schon in seinem Romandebüt, dass er ein Meister darin ist, dieses spezifische Milieu der Binnenmigranten mit seiner derben Sprache, seinen sozialen Ängsten, Schrullen, Vorurteilen und Perspektivlosigkeiten abzubilden. Das zu übersetzen, ist nicht leicht und der legendäre Übersetzer Klaus Detlef Olov, hat diese Aufgabe großartig besorgt. Slowenien ist Gastland der kommenden Frankfurter Buchmesse.
Die größten Momente des Romans folgen auch tatsächlich aus den rasanten Dialogen, in denen junge Männer sich in Provokation, Beschimpfung und Fluch überbieten und das mit der unterhaltsamsten Form der Intelligenz würzen: der Smartness der Straße. Jener Intelligenz, die blitzgescheit und wortgewandt jedes ernsthafte Argument, jeden seriösen Vorwurf zu entkräften weiß.
Erniedrigt, aber schlau
Diese aus der Erniedrigung gespeiste Schlauheit ist ständiger Begleiter im Alltag, so wie es der Basketball ist. Warum die hitzigen Debatten unter den Jungs so oft um Team und Trainer geführt werden, erläutert Marko wunderbar so: „Dejan, Aco und ich waren Anzeigetafeln. Auch wir zählen nur unsere Fehlschüsse und Treffer. […] Aber wenn wir keine Anzeigetafeln wären, würden wir kapieren, dass unser Spiel im Arsch ist. Dass wir keine Chance haben, zu gewinnen.“
So straßensmart die Jungs sind, so selbstverständlich sind sie sexistisch. Dank der Gnade ihrer späten Geburt – sie waren zu jung, um in den Unabhängigkeitskrieg der 1990er Jahre involviert gewesen zu sein, – ist ihnen zumindest der Totalausfall jeglicher Mitmenschlichkeit fremd.
In einer der stärksten Szenen beschreibt Vojnović eine Kneipenrunde, in der ein Serbe in der Erinnerung an seine Vergewaltigung einer jungen Bosnierin schwelgt. Marko verweigert dem Kriegsverbrecher irgendwann seine Rolle als Zuhörer. Die Jungs sind zwar kaputt, aber so kaputt wie die Generation, die im Krieg war, sind sie noch lange nicht.
Das Verhältnis zu Frauen ist bei Marko so neurotisch wie durchschnittlich bei den meisten Männern mit Ego-Problem. Da sich Marko seiner selbst unsicher ist und dazu auch wie sein Vater eher Mitläufer als Neinsager, entflieht er romantischen Beziehungen, bevor es ernst wird – aus Angst, dass es enden könnte. Als ihn Alma, seine Freundin in Bosnien als „Janez“ und „echter Slowene“ beschimpft und verlässt, sinniert er: „Ich bin doch immer das, was die anderen nicht sind. Ein Tschefur hier, ein Serbe dort. Einmal ein Janez, das andere Mal ein Tschetnik, das dritte Mal ein Fickschwanz für kleine Ausländerinnen.“
Trotz der slowenischen Spezifik, schenkt uns Vojnović mit seinem neuen Roman ein Sittengemälde, in dem die Folgen von Arbeitsmigration, Gentrifizierung, Identitätschaos und Entfremdung weltweit einen neuen Rahmen erhalten. Goran Vojnović schreibt damit, wie es immer so schön heißt: Weltliteratur.
Allein Marko Đorđićs Selbstbeschreibung kann und sollte sich jede und jeder in die Bio schreiben: „In Wirklichkeit bin ich auch nicht ich selbst. Ich bin die gleiche Scheiße wie Dejan Mirtić, nur etwas schöner verpackt.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Haftbefehl gegen Netanjahu
Sollte die deutsche Polizei Netanjahu verhaften?
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern
Deutscher Arbeitsmarkt
Zuwanderung ist unausweichlich
Deutschland braucht Zuwanderung
Bitte kommt alle!
#womeninmalefields Social-Media-Trend
„Ne sorry babe mit Pille spür ich nix“
Sourani über das Recht der Palästinenser
„Die deutsche Position ist so hässlich und schockierend“