Rituale im Tischtennis: Zwangsneurotiker am weißen Plastikball
In kaum einer anderen Sportart werden Gewohnheiten derart gepflegt wie im Tischtennis. Mehr Schweißabwischen geht nicht.
M eine Oma hatte eine Putzneurose. Einmal wurde in ihr Haus eingebrochen und Schmuck gestohlen; sie reiste nahezu umgehend mit meinem Onkel in ein Ferienhaus ab. Sie kompensierte den Schock, indem sie drei Tage lang das gesamte Ferienhaus putzte. Nicht am Ende des Urlaubs, sondern am Anfang. Am Ende putzte sie es noch einmal.
Aber was hat das mit Tischtennis zu tun, mögt ihr fragen? Ich erzähle es euch. Tischtennis ist eine Sportart für Nerds, das ist eine Binse. Besieht man sich die Spitzensportler dieser Sportart, muss man konstatieren, dass Grad und Anzahl von Zwangsneurotikern im Tischtennis sehr hoch ist. Wer das nicht glaubt oder für billige Küchenpsychologie hält, sollte sich nur einmal ein Spiel von Hugo Calderano, Nummer 5 der Weltrangliste, ansehen.
Calderano, Stammkraft beim Bundesligisten TTF Liebherr Ochsenhausen, hat während eines Matchs seine Rituale und kann es in dem Punkt locker mit Rafael Nadal aufnehmen, einem Zwangsneurotiker vor dem Herrn. Calderano nimmt den Ball, trocknet sich die Hand auf der Platte ab, wischt sich den Schweiß an der Stirn mit dem Unterarm ab, wiederholt das Prozedere und widmet sich dann mit Liebe dem Aufschlag. Klingt harmlos, wiederholt sich aber fortlaufend. Es geht nicht anders.
Timo Bolls Wohnmobil
Ein anderes Beispiel ist Timo Boll. Boll, der gerade seine Abschlusstournee durch die Hallen dieser Republik ableistet, hat in einem Interview mit Spiegel Work unfreiwillig durchblicken lassen, auf was sein Erfolg aufgebaut war: monotoner Fleiß, weltvergessende Disziplin. „Alles in meinem Leben ist auf Effizienz ausgerichtet“, so Boll. An den meisten Tagen wohnt er in einem Wohnmobil, keine 50 Meter von der Halle entfernt. Das Training beginnt er um 5 Uhr morgens. Er trainiert sogar seine Augenmuskulatur. Im einem normaler verlaufendem Leben wäre er Sparkassenangestellter geworden.
Keine Frage, dass die Spitzenkräfte JEDEN GOTTVERDAMMTEN TAG trainieren. In den unteren Regionen, also ungefähr dort, wo sich der Kolumnist rumtreibt, sind dreimal die Woche schon ein optimaler Wert. Als ich versucht habe, Kontakt zu meinem Heimatverein aufzunehmen, da ich dort ein paar Tage verbringen sollte, und fragte, ob ich nicht auch trainieren gehen könnte, hieß es: in sechs Wochen wieder. Es waren gerade Sommerferien.
Wer also Leistungssportler werden möchte, der muss den ganzen Tag ran, neben dem Üblichen, das so anfällt – Familie, Schule, Freunde. Extravaganzen gibt es keine, aber eine gewisse Disposition zur Zwangsneurose kann helfen. Oder entwickelt man die erst, wenn man die ganze Zeit nichts anderes macht, als einen weißen Plastikball mit einem gummibelegten Brett auf einen Tisch zu zimmern?
Das Sportwort für diese Fixierung lautet natürlich „Fokus“. Timo Boll schwört darauf und kann es auch im Alltag nicht lassen, diesen Fokus zu haben. Liest er Zeitung, liest er Zeitung. Das Interview, das er Spiegel Work gegeben hat, ist ziemlich großartig. Und dass es Spiegel Work ist, ist auch kein Zufall: Für die Arbeitswelt stellt Spitzensport, jedenfalls von oben betrachtet, so etwas wie eine Traumfabrik dar. Hier muss man neoliberale Arbeitsmoral gar nicht einimpfen. Das bringen die Helden des Sports von sich aus mit.
Hugo Calderano zum Beispiel hat in der Bundesliga eine Saisonbilanz von 17:1. Timo Boll, die ehemalige Nummer 1 der Welt, steht bei 11:11. Die fetten, nein, besser: asketischen Jahre sind wohl vorbei. Boll hat noch genau einen Spieltag vor sich, dann folgen die Play-offs. Es kann Juni werden, bis seine Karriere endgültig vorbei ist und er seinen Camper auf wirkaufendeinauto.de anbieten kann. Was aber machen Zwangsneurotiker oder Autisten, wenn ihr Betätigungsfeld wegbricht?
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