Rituale der Machtübergabe: Als Olaf Scholz sitzen blieb
Olaf Scholz hat bei der Vereidigung zum Kanzler alles anders gemacht als seine Vorgängerin. Was das bedeutet? Das kommt auf die Lesart an.
W er sich kostengünstig einen fortschrittlichen Touch geben will, weicht bei traditionellen Ritualen ein ganz klein wenig von der Regel ab. Politiker nutzen die winzige Gehorsamsverweigerung gern als symbolisches Mittel, um das eigene Verfallsdatum in den Geschichtsbüchern zu verlängern.
Dazu zählen die Turnschuhe der Vereidigung (J. Fischer 1985) und das Fahrrad mit der Ernennungsurkunde auf dem Gepäckträger (C. Özdemir 2021).
Nun hat auch der für Exzentrik unanfällige Olaf Scholz bei seiner Wahl zum Bundeskanzler für eine extravagante Note gesorgt.
Bundestagspräsidentin Bärbel Bas (SPD) sprach nach Verkündung des Ergebnisses den gewählten Bundeskanzler an: „Ich frage Sie, Herr Abgeordneter Scholz, nehmen Sie die Wahl an?“ Scholz’ Amtsvorgängerin Merkel hatte wie ihre Vorgänger auf diese in förmlicher Anrede gestellte Frage förmlich ins Mikrofon geantwortet: „Herr Präsident, ich nehme die Wahl an.“ Und war zuvor zwecks Tätigung dieser Aussage von ihrem Stuhl aufgestanden.
Wie ein Einser-Schüler
Der am Mittwoch so Angesprochene aber blieb sitzen und drückte ohne sein Mikro anzuschalten, ein leises, verschlucktes „Ja“ heraus. Als Bärbel Bas nach einigen Sekunden merkte, dass der Angesprochene seiner Aussage nichts hinzuzufügen hatte, behandelte sie ihn wie einen Einser-Schüler, dem vor Aufregung die Stimme versagt war. Sie stellte für alle im Raum hörbar fest, dass der Junge gesagt hatte, was alle erwartet hatten: „Das war laut und vernehmlich.“
Scholz hatte schon bis hier alles anders gemacht als seine Vorgängerin: Wo sie aufgestanden war, blieb er sitzen. Wo sie sitzen geblieben war, stand er auf: bei den Standing Ovations nach Bekanntgabe des Ergebnisses.
Aber Scholz kam nun erst richtig in Fahrt: Direkt nach seinem Ja-Wort rollte er mit seinem Abgeordnetenstuhl zu der hinter ihm stehenden Abgeordnetenbank zurück und wieder nach vorne in die Ausgangsposition. So wie Ärzte es machen, nachdem sie einem eineinhalb Minuten zugehört haben und mit dieser Geste des Stuhl-vom-Tisch-Wegrollens signalieren: Ihre Zeit ist um. Bitte gehen Sie.
Rollen statt Rock'n'Rollen
Dieser einzigartige Scholz-Ausflipper ist semantisch mehrdeutig: War er der Kontrollverlust eines Technokraten, der den Code vergessen hat? Dann wäre das Stuhlrollen eine Übersprungshandlung, um nachträglich Lässigkeit in sein Tun hineinzuheimsen, die andeuten soll: Kein Gott, keine Präsidentin, kein Protokoll – Ich bin der Fortschritt, ich wage ihn.
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Oder war es die Macher-Botschaft: Sitzen bleiben und signalisieren, dass die Geschäfte nahtlos weitergeführt werden. Keine Zeit für lächerliche Rituale. Let’s Roll statt Rock ’n’ Roll.
Oder war es ein taktisches Rollenspiel im Wettbewerb um den Kanzler, der die wenigsten Worte braucht? Werden wir künftig einen Kanzler erleben, der Entscheidungen per Stuhlrollen bekannt gibt und eine Regierung der Aussagelosigkeit betreibt?
Der letzte SPD-Kanzler vor Scholz rief den als Ablenkung von staatlichem Versagen in der Bekämpfung rechtsradikaler Kriminalität kritisierten „Aufstand der Anständigen“ aus.
Olaf Scholz hat nun den Anstand aufgegeben, aufzustehen. Bleibt zu hoffen, dass er anders als seine Vorgänger wenigstens dann aufsteht, wenn es nicht um reine Symbolpolitik geht.
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