Riesenzelt für Obdachlose in Berlin: Heiße Luft und warme Suppe
Die Berliner Kältehilfe betreibt auch in diesem Jahr eine Traglufthalle als Notunterkunft – mit 100 Klappbetten. Ein Besuch in der Nacht.
Ein Winterabend in Berlin. Es ist kalt. In dieser Nacht wird das Thermometer unter 0 Grad rutschen. Hier, auf dem ehemaligen Güterbahnhof Wilmersdorf am Innsbrucker Platz, steht ein riesiges Zelt. Davor warten ein paar Männer mit hochgezogenen Schultern. Einer hat seine Kapuze tief ins Gesicht gezogen und schwankt sacht hin und her.
Es ist kurz nach 20 Uhr. Im Zelt sind ein knappes Dutzend Menschen damit beschäftigt, letzte Vorbereitungen für die heutige Nacht zu treffen. Feldbetten werden aufgestellt, Tee wird gekocht und Geschirr für die angelieferte Suppe bereitgelegt. Einer von diesen Menschen ist Martin Enzner, Anfang 30. Für diese Kältesaison hat er die Leitung des Zeltes, auch Traglufthalle genannt, übernommen. „Man kriegt ja zurzeit in Berlin keine anderen Immobilien als Notunterkünfte. Obwohl die dringend gebraucht würden. Irgendwann wird das Gelände hier natürlich verkauft, aber so lange nutzen wir das eben mit der Traglufthalle“, sagt er.
Die Halle erinnert mit der organisch geschwungenen Dachkonstruktion eher an ein futuristisches Zirkuszelt. Aber sie dient als zusätzliche Notunterkunft für Obdachlose. Hier schlafen seit Mitte November Nacht für Nacht viele Männer. Auf etwa 1.000 Quadratmetern finden sich hier zwei mit weißen Planen abgetrennte Schlafbereiche, in denen 100 Klappbetten dicht an dicht stehen. Dazu kommt ein Cafeteria-Bereich, zwei Sanitäts-Container und ein Container, der als Büro dient. In der Halle riecht es nach Gras, auf dem Boden ist Rollrasen ausgelegt. Ein lautes Gebläse pustet angenehm warme Luft in die Halle.
Enzner, schmale, aber durchtrainierte Gestalt, dunkelblonde Haare, schmaler, trendy Schnurrbart, schaut auf die Uhr. Es ist 20.45 Uhr. Zeit für das Team-Warm-up. „Als ich gefragt wurde, die Notunterkunft zu leiten, hatte ich total Bock darauf, etwas neu zu gestalten, mich hier einzubringen, neue Ideen mit den Mitarbeitern zu entwickeln“, sagt er und klatscht in die Hände. Sechs junge Studierende stellen ein paar Bänke zusammen. Mehrmals in der Woche arbeiten sie hier von 19 Uhr bis 0.30 Uhr. Sie bekommen 7,50 Euro die Stunde.
Neue Ideen
„Okay, also wir machen gleich auf. Aber vorher will ich noch von euch wissen: Wenn ihr an die nächsten Monate denkt, was wünscht ihr euch für diesen Ort?“, fragt Martin Enzner und reicht jedem ein paar Zettel. Alle überlegen, schreiben was auf und legen die Zettel in die Mitte auf den Grasboden. Früh-Yoga, Musik, Frisör, Obdachlosen-Chor, Hausapotheke, Hustentee und Ingwerknollen steht darauf. Und immer wieder: Mehr Zeit und mehr Hilfe und mehr Gespräche mit den Obdachlosen.
Martin Enzner seufzt: „Ja, ich weiß, mehr Zeit wäre wirklich toll, aber dafür bräuchten wir einfach ein paar mehr Mitarbeiter. Oder wenigstens ein paar Ehrenamtliche mehr. Aber die haben wir einfach nicht.“ Die anderen Vorschläge, die nicht so viel Man-Power brauchen, werden aufgenommen. Eine Studentin bietet an, dass sie Hustentee und Ingwerknollen besorgen kann. Ein anderer will sich nach einem Frisör umhören; die zusätzliche Musik wird von den meisten skeptisch gesehen. Ein Student bringt es auf den Punkt: „Die sind doch den ganzen Tag draußen und unter Leuten, die brauchen doch wenigstens abends mal ein bisschen Rückzug!“
Am Ende des Warm-ups schließen alle für drei Minuten die Augen und schweigen. Nur das Gebläse und die Stimmen der Obdachlosen von draußen sind zu hören.
21 Uhr. Ein Security-Mann mit schwarzer Jacke und schweren Stiefeln öffnet die Tür und mit einem kalten Windstoß stolpern die ersten obdachlosen Männer in die Halle, darunter ein paar ältere Männer mit wettergegerbten Gesichtern, in die das lange Leben auf der Straße eingeschrieben sind. Einige sind betrunken. Ein paar sind aber auch noch jung: Sie unterscheiden sich mit ihren Klamotten, Rucksäcken und Turnschuhen kaum von den hier arbeitenden Studenten. Nur an den meist schlechten Zähnen und an den rissigen, schmutzigen Fingernägeln sieht man ihnen die Armut oder die Drogensucht, die Obdachlosigkeit an.
Die drei Studenten Jil, Johannes und Jorge begrüßen die Männer freundlich: „Horst! Schön, dich heute wieder zu sehen!“ Mit Gummihandschuhen tasten sie die Männer nach Alkohol, Medikamenten und Waffen ab, die nicht mit in die Halle dürfen. Anschließend suchen sie die Haare nach Läusen ab. „Bei den Läusen muss man extrem aufpassen. Wenn man die einmal drin hat, dann kriegt man die nicht wieder so einfach raus. Dann müsste man hier gleich die ganze Halle schließen und desinfizieren“, sagt Jasper. Er sitzt an einem Computer am Eingangsbereich und registriert alle Neuankömmlinge mit Namen. Jasper ist Mitte 20, studiert Bildungswissenschaft und jobbt schon seit vier Jahren für die Kältehilfe. Er kennt viele der Männer hier: „Manche sieht man Jahr für Jahr wieder, und jedes Jahr sehen die schlechter aus“, sagt er.
Nach einer Dreiviertelstunde hat sich die Halle gut gefüllt. Die meisten gehen erst mal in den Cafeteria-Bereich, wollen etwas essen und Tee trinken. Doch hinter der Theke stehen nur zwei Studenten. Sie kommen ins Rotieren. Martin Enzner, der eigentlich noch ein paar Betten im Schlafbereich beziehen muss, stellt sich schnell dazu und hilft mit, den Männern warme Suppe auszugeben.
Inzwischen ist es 21.45 Uhr. Zwei Frauen, beide Mitte 30, betreten die Halle und mischen sich unter die Obdachlosen im Cafeteria-Bereich. Marie-Therese Reichenbach und Petra Schwaiger sind von den Frostschutzengeln. Sie arbeiten seit Jahren als Sozialarbeiterinnen für die Berliner Kältehilfe und betreuen besonders die vielen Obdachlosen aus Osteuropa. Das sind meist jüngere Männer aus Polen, Rumänien oder den baltischen Staaten, die sich als Schwarzarbeiter oder als billige Arbeitskräfte von ihren Hungerlöhnen oft keine Bleibe leisten können.
„Oft haben diese Arbeiter das Problem, dass, wenn der Job weg ist, auch die Unterkunft weg ist“, sagt Marie-Therese Reichenbach. „Und da die meisten keine finanziellen Ressourcen haben und hier in Berlin auch kein soziales Netz, landen viele schnell in der Obdachlosigkeit.“
Reichenbach, dunkle Haare und Brille, sieht das Konzept der Wärmehalle, die als Notunterkunft dient, kritisch. Nicht nur wegen der osteuropäischen Obdachlosen. „Natürlich herrschen hier im Vergleich zu vielen anderen Notunterkünften tolle Standards. Aber der Einsatz von solchen großen Hallen ist doch eigentlich für Krisenzeiten oder Krisengebiete gedacht. Etwa nach einem Erdbeben oder einer großen Naturkatastrophe.“
Ein Mann mit großen Verband am Arm kommt auf Reichenbach zu und spricht sie an. Der Mann kommt aus Lettland. Seit zwei Jahren sei er in Deutschland. Vor ein paar Wochen half sie ihm, einen Hartz-IV-Antrag auszufüllen. Nun erzählt er ihr, dass er mit einem gebrochenen Arm im Krankenhaus war und ihm dort alle Unterlagen geklaut wurden. Oder er sie dort verloren oder vergessen habe. So genau kann er das nicht mehr sagen. Auf jeden Fall muss er jetzt wieder von vorn anfangen. Aber allein und mit seinen geringen Deutschkenntnissen? Reichenbach verspricht, ihm zu helfen und macht einen Termin mit ihm aus.
„Das ist es, was ich meine“, sagt sie. „Viele Osteuropäer wissen gar nicht, dass sie Hartz IV beantragen können, wenn sie hier schon einmal versicherungspflichtig gearbeitet haben.“
Ihre Kollegin Petra Schwaiger, blonde kurze Haare mit buntem Tuch, mischt sich ein: „Obdachlosigkeit hängt ja meistens ganz stark mit psychischen Krankheiten und Problemen zusammen. Viele werden obdachlos, weil sie aus allen Beziehungen rausfallen. Die leben auf der Straße in einem Paralleluniversum. Sie brauchen nicht nur ein warmes Bett, sondern konstante Beziehungen in kleinen Notunterkünften.“
Kurz nach 22 Uhr. Der Schlafbereich wird geöffnet. Martin Enzner und ein Student verteilen eilig Zahnbürsten, Waschlappen und Duschgel und beziehen die letzten Betten. Jasper sieht den Ansturm und hilft. Einige Männer legen sich sofort hin, andere sitzen noch auf den Bierbänken im Cafeteria-Bereich und trinken Tee. Einer von ihnen ist Andreas, rotes Shirt, blonde, kurze Haare, Anfang 50. Seit sechs Jahren lebt er auf der Straße, sagt er. Er kommt aus Leipzig. Und er war Koch. Nachdem er zweimal fremdgegangen sei, habe ihn seine damalige Lebensgefährtin aus der gemeinsamen Wohnung geschmissen. Sein Problem mit dem Alkohol tat das Übrige und irgendwann fand er sich auf der Straße wieder. Er komme gerne in die Wärmehalle. „Das hier ist ja wie ein Vier-Sterne-Hotel für uns. Alles neu, alles schön. Nicht so ein Läusebunker wie die Notunterkunft am Hauptbahnhof. Aber ich will trotzdem weg von der Straße. Ich hab keinen Bock mehr, die Gewalt wird immer schlimmer.“
Plötzlich redet ein anderer Mann dazwischen, will auch seine Geschichte erzählen und wie er es findet in dieser neuen Notunterkunft. Andreas versucht den anderen zunächst zu ignorieren, rückt näher heran, redet lauter. Aber der andere reagiert nicht, rückt ebenfalls näher und redet einfach weiter. Offensichtlich ist er betrunken. Schließlich reicht es Andreas und er brüllt ihn an: „Halt endlich die Fresse.“
Man hat keine Ruhe
Er hält inne und sagt dann etwas entschuldigend: „Siehst du? Das meine ich. Du hast ja nie deine Ruhe vor solchen Idioten. Auch hier nicht.“ Er steht auf. Eine letzte Zigarette vorm Schlafen.
23 Uhr. Viele Männer schlafen schon, lautes Schnarchen klingt durch die Halle. Die Frostschutzengel sind wieder gegangen. Aber noch immer sitzen einige Männer im Raucherbereich, man hört leises Reden und Lachen. Ein Obdachloser hat eine Weihnachtsmütze über eine Abtrennung gehängt, die in regelmäßigen Abständen ein irres Blinken abgibt. Das Licht in der Halle wird runtergedimmt, während die Studenten und Martin Enzner im Küchenbereich die zahlreichen Stapel von Geschirr wegspülen. Als sie fertig sind, bringt der Kältebus noch einmal ein paar Männer, die auch noch schnell mit warmen Tee, Essen und Waschutensilien versorgt werden müssen.
24 Uhr. Das Team um Martin Enzner hat jetzt Feierabend. Rund 80 Männer haben sie versorgt. Nun treffen die drei Mitarbeiter der Nachtschicht ein. Sie werden die ganze Nacht über weitere Männer in Empfang nehmen. Um halb sieben ist Weckzeit, dann gibt es ein Frühstück und spätestens um acht Uhr morgens werden die Männer wieder auf die Straße geschickt.
Es ist 0.30 Uhr. Die Studierenden sehen erschöpft aus, aber auch zufrieden. Trotz des Stresses haben sie auch viel gelacht. Eilig treten sie aus der Halle heraus und machen sich auf den Weg zur S-Bahn. Morgen Abend und auch viele Nächte danach werden sie wiederkommen. Bis es endlich wieder Frühling wird. Doch er kommt wieder, der Winter. Und dann fängt alles wieder von vorne an.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei
Anbrechender Wahlkampf
Eine Extraportion demokratischer Optimismus, bitte!
Exklusiv: RAF-Verdächtiger Garweg
Meldung aus dem Untergrund
Wirbel um KI von Apple
BBC kritisiert „Apple Intelligence“