Rheda-Wiedenbrück, die Tönnies-Stadt: Eine Stadt aus Fleisch
Die Subunternehmen seien schuld am Corona-Ausbruch, nicht Clemens Tönnies, sagen viele Anwohner. Auf den Fleischproduzenten lässt man nichts kommen.
E in leises Grunzen durchzieht die verregnete Luft. Punkt 4 Uhr am Donnerstagmorgen zieht ein Laster zwei metallische Anhänger mit Schweinen auf das Betriebsgelände von Tönnies. Ein Wagen mit Sicherheitskräften fährt voraus, ein zweiter Laster mit Naturdärmen folgt. Es ist keine gewöhnliche Lieferung für einen gewöhnlichen Schlachthof. Es ist eine der ersten Lieferungen hier seit einem Monat, wenige Hundert Meter vor dem Ortsschild von Rheda-Wiedenbrück.
Mitte Juni wurde ein Corona-Ausbruch in dem ostwestfälischen Fleischverarbeitungswerk bekannt, der sich schnell zu einem Skandal ausweitete. Die Hygienestandards in der Schlachterei und Fleischverarbeitung hatten versagt. Dies entfachte eine Diskussion über Produktionsbedingungen in Schlachtbetrieben allgemein und über die Lebensbedingungen der Werkvertragsarbeiter:innen in Rheda-Wiedenbrück im Besonderen. Gleichzeitig ist Tönnies einer der größten Arbeitgeber der Region. Wie bewegen sich die Bewohner:innen der Stadt in diesem Spannungsfeld?
Es ist Anfang der Woche zur späten Mittagszeit in einem Pizza- und Grillimbiss. Über einen Fernseher läuft leise Rapmusik. Bis auf einen Tisch sind die braunen Ledermöbel unbesetzt. „Ohne Tönnies ist Rheda tot“, sagt Yüksel Evim und schaltet per Fernbedienung andere Musik ein. Ab und an kommen junge Männer in Arbeitshosen ins Geschäft und bestellen Döner zum Mitnehmen, das Telefon klingelt für Bestellungen. Doch hinsetzen und das Essen an Ort und Stelle verzehren, das macht kaum jemand. „Ich habe schon überlegt, den Laden zu schließen, aber das kann man ja auch nicht machen“, sagt Evim.
Es seien weniger die Arbeiter:innen von Tönnies, die ihm fehlten, sondern die Menschen aus der Gemeinde, sagt Evim. „Sie haben Angst.“ Angst vor einem Ausbruch der Epidemie in der Stadt in dem Ausmaß, wie es die osteuropäischen Vertragsarbeiter:innen von Tönnies getroffen hat. 1.400 von ihnen hatten sich nachweislich mit dem Virus infiziert. Die Zahl derer, die sich in einer mindestens dreiwöchigen Quarantäne befanden, ist nach Angaben der Stadt viermal so hoch. Auch Evims Schwiegersohn zählte dazu. Der streckt seinen Kopf von der Eingangstür ins Geschäft, als er hört, dass von ihm gesprochen wird.
Er ist Schweinezerleger bei Tönnies. Seine Quarantänezeit ist vorbei. Während polnische und rumänische Arbeiter:innen berichten, in den vergangenen Wochen mehrfach getestet und kaum informiert worden zu sein, saß er die drei Wochen einfach ab. „Die werden ganz anders behandelt“, sagt er. Während er derzeit Extra-Urlaubstage hat, wissen andere Arbeiter:innen, die bei Subunternehmen angestellt sind, nicht, ob ihnen überhaupt Lohn ausgezahlt wird.
Yüksel Evim entgegnet: „Aber sie haben gutes Essen bekommen von Tönnies!“ Er lässt auf Clemens Tönnies nichts kommen. Auf die dunkle Steintheke gestützt, sagt er: „Ehrlich, wenn ich die Möglichkeit hätte, würde ich Tönnies selber anrufen und fragen: Was kann ich tun?“ Es wirkt paradox, bleiben doch die Gäste wegen des fehlenden Arbeitsschutzes in der Fleischverarbeitung von Tönnies nun öffentlichen Orten wie dem Imbiss fern.
„Er ist nicht allein dafür verantwortlich, sondern auch die ganze Stadt und die Regierung“, sagt Evim. Dabei ist Tönnies die Stadt. „Ihm gehört hier alles“, sagt Evim. Das Handelsregister führt 33 Einträge mit dem Namen Tönnies in Rheda-Wiedenbrück: Solutions, Holdings, Central Services, Financial Services, Productions.
Dem Unternehmer gehören neben der Fleischverarbeitung auch Hotels, ein Fitnessstudio, ein Kindergarten, eine Firma für Softwareentwicklung. Eine Immobilienagentur, ein Forschungsinstitut für Tierwohl und eine Fußballarena tragen seinen Namen. Die Liste scheint unendlich. Gehört auch dieser Imbiss dazu? „Nein, der gehört meinem Sohn“, sagt Evim lächelnd in seinen dichten graumelierten Bar. Seit zweieinhalb Jahren gebe es den jetzt. Das Fleisch im Imbiss kommt nicht von Tönnies, und auch Evim selbst lebt nicht in Rheda. Woher die Sympathie für Clemens Tönnies rührt, erschließt sich nicht sofort. Doch sie scheint ortsumfassend – zumindest in Rheda, dem westlichen Teil der Stadt. Wer die Gründe dafür verstehen will, muss dorthin schauen.
„Nach Wiedenbrück fährt man nur, wenn's wirklich sein muss!“
Am Abend sitzen die Sportsfreunde des ehemaligen Fußballvereins DJK Rheda bei Bier und Brause vor einer Schänke. Rings um die zehn älteren Herren herum klatschen dicke Wassertropfen auf die Pflastersteine des Doktorplatzes. Bei ihnen unter den Sonnenschirmen ist es wohlig und heiter. Im Kleidungsstil sind sie sich so ähnlich, wie sich ihre Ansichten gleichen. Die Momente, in denen nur einer von ihnen spricht, sind rar. „Nach Wiedenbrück fährt man nur, wenn’s wirklich sein muss!“, lautet der moderateste Ausspruch über den südöstlich gelegenen Teil der Stadt.
1970 wurden Rheda und Wiedenbrück formal zusammengeführt. 49.000 Menschen wohnen in altem Fachwerk und neuen Flachbauten. Zwischen den Ortsteilen ziehen sich heute Erlenbruch, Schlosswiesen, ein Gewerbegebiet und Mauern in den Köpfen. Clemens Tönnies ist ein „Rhedaer Jung“ – so erzählt er sich selbst, so erzählen ihn die Rhedaer.
Die Rentner kennen sich seit ihrer Kindheit. Ihre Familiennamen wollen sie nicht genannt wissen. In Rheda nennt man sich beim Vornamen. „Ich kenn den Clemens noch als kleinen Jungen“, sagt Jochen und schneidet mit einer flachen Handbewegung knapp einen Meter über dem Boden die Luft. So klein sei er damals noch gewesen.
Als Söhne des Stadtmetzgers waren die Berufsaussichten von Clemens und seinem Bruder Bernd vorgezeichnet. Die Kleine Straße herunter, einmal links, einmal rechts, sei die alte Metzgerei gewesen. Doch Bernd und Clemens wollten mehr, heißt es. Die Brüder hätten angefangen Schweine einzukaufen, um sie zu zerlegen und weiterzuschicken. Stück für Stück wuchs aus dieser Idee über Jahre hinweg ein Imperium heran. Seine Stadt aber habe Clemens Tönnies dabei nie vergessen.
„Es wäre sicher manches erhaltene Haus abgerissen worden, wenn er nicht wäre“, sagt Heribert und deutet auf das Hotel am anderen Ende des Platzes. Weiße Gitterfenster und rote Backsteine sitzen zwischen dunklen Holzbalken. Die weiße Flügeltür öffnet sich auf eine Restaurantterrasse. Es ist eins der schönsten Häuser hier.
„Die letzte Erweiterung von 20.000 auf 30.000 Schweine pro Tag war Blödsinn“, sagt einer der Männer, als sei dies der Punkt. „Die Unterbringung der Werksvertragsarbeiter ist das Problem. Aber früher war das schlimmer.“ Die Neubauten Richtung Werk seien die Ausnahme. „Die gibt es ja erst seit zwei Jahren. Und wie viele wohnen da? Ein paar Hundert von 7.000“, sagt einer der Männer. Der Rest verteile sich über die ganze Stadt und bis nach Gütersloh in verschiedene Unterbringungen. Manche seien moderat, andere in katastrophalem Zustand. Gewusst haben dies alle, aber „alle haben weggesehen“, heißt es in der abendlichen Runde.
„Die Werkverträge sind moderne Sklaverei, die über die Subunternehmen laufen. Die Subunternehmer verdienen sich dumm und dämlich“, sagt Heribert, der am Tischende sitzt. Das seien selber Rumänen und Bulgaren. Einige von ihnen kauften selbst Häuser am Stadtrand. „Familienclans“, sagt einer der Männer unter Beipflichten der anderen. Das Maß am Rhedaer Jung ist ein anderes: „Man kann sicher nicht sagen, dass Clemens Tönnies das alles nicht gewusst hat“, gibt Heribert zu, „aber man hat’s ihm nun mal genehmigt.“
Tönnies ist ein Familienunternehmen: Hochgezogen von Clemens Tönnies verstorbenem Bruder Bernd und mit maßgeblicher Beteiligung des Neffen Robert, erwirtschaftete die Unternehmensgruppe im vergangenen Jahr mehr als 7 Milliarden Euro.
Die lokale Neue Westfälische schrieb im vergangenen Sommer über eine Abendveranstaltung des Heimatvereins Rheda. Der Titel: „Es geht um die Wurst“. Der Anlass: Clemens Tönnies legte persönlich seine Erfolgsgeschichte dar. Nach Applaus und warmen Worten habe sich jemand nach den Werksarbeiter:innen erkundigt. „Wenn es diese 3.000 nicht gäbe, dann gäbe es die anderen 3.300 auch nicht“, habe er darauf geantwortet.
„Mir tut's um die Leute leid“
„Es wird sich sicherlich etwas ändern, bis sich alles beruhigt hat. Aber dann geht’s wieder los“, sagt Jochen. Als wäre dies das Schlusswort, löst sich die Herrenrunde allmählich auf. Martin, ein fast glatzköpfiger Herr, lehnt sich nach vorn. Er stützt seine fleckigen Hände auf den Griff seines langen Regenschirms und fängt an ihn zu drehen. Eine Runde, stopp. Eine Runde, stopp. „Mir tut’s um die Leute leid“, sagt er, den Blick auf den Regenschirm geheftet, „das sind die Ärmsten aus Europa.“
Die, auf deren Rücken der Rhedaer Wohlstand gebaut ist, sind größtenteils Bulgaren, Mazedonier, Polen und Rumänen. Anders als in der Saisonarbeit sind viele der Arbeitskräfte aus Osteuropa dauerhaft hier, einige bleiben ganz. Lazăr Stan und Vlad Matei sind zwei von ihnen. Die beiden Rumänen leben seit über zehn Jahren in Rheda-Wiedenbrück. Wie jeden Mittag treffen sie sich zum Feierabend unter einem Baum im Schlosspark zu Energydrink und Jägermeister. Die Luft ist klar vom Regen der vergangenen Nacht, zwischen den Parkbäumen herrscht Ruhe. Überall würden sie arbeiten, aber nicht mehr für Tönnies, sagen Stan und Matei. Ihre richtigen Namen wollen sie dennoch nicht nennen.
Vlad Matei hat fünf Jahre für ein Subunternehmen gearbeitet. Das war von 2009 bis 2014 und danach sagte er sich: „Nie wieder? Zu lange Arbeit, zu viele Menschen und zu wenig Geld.“ Matei redet langsam, als sei alles schon auserzählt. Er habe mit sechs oder sieben Männern auf einem Zimmer gelebt und bis zu 16 Stunden am Tag gearbeitet. Auch Lazăr Stan sagt, dass alle Menschen, die er von dort kennt, „immer weinen“. Von den 1.000 Euro Gehalt bleibe kaum etwas übrig. „Auf dem Lohnzettel heißt es dann minus, minus, minus und am Ende stehst du mit 150 Euro da.“ Er kneift die Lider um seine stechend blauen Augen zusammen.
„Tönnies ist nicht das Problem“ – auch Stan vertritt diese Meinung. Etwa die Hälfte der Arbeiter:innen ist bei Subunternehmer:innen angestellt, die andere Hälfte direkt bei Tönnies. „Die Leute, die fest hier wohnen und arbeiten, beschweren sich nicht. Die Leiharbeitsfirmen sind das Problem.“ Matei hebt seinen Kopf, so dass seine Augen knapp unter dem Schirm seines grünen Caps hervorschauen, und sagt: „Besselmann“. „Ja, Besselmann“, nickt Stan ab und fischt eine Zigarette an ihrem weißen Filter aus der Schachtel.
Die Firma Besselmann hat bei Google eine Bewertung mit zwei von fünf Sternen. Neben einer Höchstbewertung stehen zwei andere. „Sie sind das Letzte was die Arbeitswelt brauch“ und „Lasa de dorit!“, steht in den Kommentaren. „Lass es!“ auf Rumänisch. „Alle wissen genau, was los ist, aber viele haben Angst. Wovor sie Angst haben, weiß ich nicht“, sagt Stan.
Mit den deutschen Rhedaern hat er keinen Kontakt
Er hat seinen eigenen Weg gefunden, sich in Deutschland niederzulassen. „Ich kenne Deutschland, ich arbeite seit 20 Jahren überall in Deutschland. Zum Anfang auf Montage, aber mit Familie willst du nicht mehr so viel unterwegs sein.“ Viel Geld verdient auch er nicht, gerade 11 Euro pro Stunde, aber es reiche für eine Familie hier in Rheda-Wiedenbrück. Stans Frau ist auch Rumänin. Mit den deutschen Rhedaern habe er bis heute keinen Kontakt. Mit den Rumänen verhalte es sich anders, sagt Stan. Man treffe sich einmal unter einem Baum und am nächsten Tag dann wieder.
Dabei zeugt das Stadtbild vom hohen Anteil an Osteuropäer:innen. Die Aushänge im Eingang des Rathauses sind in verschiedene Sprachen übersetzt und es sind Angebote speziell für Osteuropäer:innen ausgewiesen. Die Stadtwebsite führt Informationen in leichter Sprache. In der Innenstadt gibt es ein Geschäft mit rumänischen Spezialitäten und einen bulgarischen Spätkauf. Man sollte meinen, die Osteuropäer:innen sind Teil der Gesellschaft, doch dies stimmt nur bedingt.
„Es gibt keine Räume, die man gemeinsam nutzt, und die Menschen haben eigentlich auch gar keine Zeit“, sagt Gaby Stecher-Dick. Die 70-jährige Rentnerin war 2012 eines der ersten Mitglieder der Interessengemeinschaft WerkFAIRträge, die sich für fairere Arbeitsbedingungen der Werkvertragsarbeiter:innen einsetzt. Sie kennt die Lebenswelten und Werkswohnungen der Arbeiter:innen. „Sie haben nichts anderes außer Arbeit, Feierabend, Saufen, Schlafen, Arbeit,“ sagt sie. Das gefalle den Nachbar:innen oft nicht, vor allem nicht in den Villenvierteln, wo sie mitunter in abrissreifen Häusern untergebracht würden.
„Seit 2012 haben wir mit Tönnies und den Stadtvertretern an runden Tischen gesessen. Es wurde gesagt, fortan gäbe es Kontrollen. Aber offensichtlich ist nichts passiert“, sagt Stecher-Dick. Der Stadt, aber auch ihren Bewohner:innen sei klar, wie die Arbeits- und Lebensverhältnisse der Arbeiter:innen aussähen. „Das haben sie auch vorher gewusst, aber dann dürften sie eigentlich nicht mehr so tun, als wüssten sie es nicht.“
Aus der Pressestelle der Stadt heißt es, in Rheda-Wiedenbrück seien bereits 2014 Wohnstandards für die Werkvertragswohnungen festgelegt und Wohnraumkontrollen eingeführt worden. Pro Jahr würden 600 bis 800 Wohnungen kontrolliert.
Stecher-Dick spricht von „Bruchbuden“. Sie sagt auch, es sei stadtbekannt, wer diese vermittle: ein ehemaliger Angestellter von Clemens Tönnies, ein Ur-Rhedaer. Ihre Stimme klingt jung, doch manchmal bedrückt. Sie müsse sich zurückhalten in ihrer Wortwahl, sagt sie immer wieder. So groß sei ihre Wut. Da ist zum einen die Wut auf Tönnies, der sich und Gäste in Edelrestaurants zum Essen ankündigt, während seine Arbeiter:innen in Quarantäne teils unterversorgt sind. Aber sie empfindet auch Wut auf die Stadtgesellschaft. „Wie kann man so einen Menschen gut finden?“, fragt sie sich.
Vom Proleten zum Milliardär – der Rhedaer Traum
Warum schauen so viele Menschen in Rheda-Wiedenbrück nicht nur weg, sondern zu ihm auf? „Clemens ist ein Rhedaer Jung, so stellt er sich selber dar“, sagt Stecher-Dick. Es heißt, in seiner Jugend sei er eher ein Prolet, sich für keine Schlägerei zu schade gewesen. Wenn er heute durch die Stadt geht, sähen die Menschen ihn voller Respekt an. „Man verbrüdert sich gern. Er hat es geschafft“, sagt Stecher-Dick.
Vom Proleten zum Milliardär – der Rhedaer Traum. Doch es ist nicht nur Sympathie für die Geschichte des Mannes aus den eigenen Reihen. Es ist auch die Teilhabe an seinem erwirtschafteten Reichtum. Die deutschen Rhedaer profitieren von der Art des Wirtschaftens Tönnies’ – direkt oder indirekt. Schweigen und wegschauen ist der Preis, auf den man sich einigt. „Erst zu fortgeschrittener Stunde und bei gehobenem Pegel redet man dann darüber, wer so eine Villa hat und für wie viel Geld er sie vermietet“, sagt Stecher-Dicks Mann Wilhelm.
Eine dieser Villen steht in der Gütersloher Straße, stadtauswärts Richtung Tönnies. Am späten Mittwochnachmittag sitzen ein paar Männer und Frauen auf der Treppe vor dem Hauseingang. Hängende Schultern, dunkle Augenränder. Vor Kurzem kam die Nachricht, dass das Werk ab Donnerstag schrittweise wieder hochgefahren wird. Während einige rumänische Kollegen vom geklinkerten Neubau gegenüber erzählen, dass sie am nächsten Morgen um acht zum Probedurchlauf ins Werk gehen, sitzen die Menschen hier noch immer in Quarantäne fest. Weder haben sie Informationen zu ihrem Gesundheitsstatus noch ein Gehalt bekommen. Wenn es richtig eng wird, käme jemand mit 50 Euro, erzählt einer der Männer in gebrochenem Deutsch.
Jetzt, wo Tönnies wiedereröffnet, rechnet er damit, bald an Papiere vom Gesundheitsamt zu kommen, um dann direkt wieder zur Arbeit zu gehen.
„Tönnies“ scheint in dieser Runde ein Reizwort zu sein. Gemeinsam stimmen die Männer und Frauen „Tönnies wuuuh“ an, heben dabei halbherzig ihre Arme. Sie feiern nicht ernsthaft einen Mann als Befreier, der sie doch in diese Situation gebracht hat. Wenn das Geld einmal da ist, wollen sie nach Hause zu ihren Kindern. Danach werden sie wieder zum Arbeiten nach Deutschland kommen. Der Lohn hier bleibt bei aller Ausbeutung höher als in ihren Herkunftsländern. Doch sie haben eine Menschenwürde, die verletzt wurde. Einer von ihnen stellt klar: „Für Tönnies arbeite ich nie wieder.“
Schon bevor am nächsten Morgen der erste Viehtransport eintrifft, schleicht der Wachschutz in dunklen Kombiwagen an den Geländeeinfahrten entlang. Die Wachleute sind präsent, ihr Auftreten ist bedrohlich. Dabei ist in der Dunkelheit des Morgens noch nicht absehbar, dass im Laufe des Tages Aktivist:innen von Greenpeace auf dem Dach des Tönnies-Werkes landen werden, um gegen die Wiedereröffnung zu demonstrieren. Auch zeichnet sich zu diesem Zeitpunkt noch nicht ab, dass sich am Freitag Hunderte Tierschutzaktivist:innen und Landwirt:innen vor dem Tönnies-Werk gegenüberstehen werden. Das Tier steht im Mittelpunkt.
Im letzten Monat haben sich nur wenige Dinge tatsächlich verändert: Neue Luftfilter wurden installiert, UV-Strahler halten die Räume steril, Sicherheitsabstände sollen besser einhaltbar sein. Ende Juni gab die Pressestelle Tönnies bekannt, man wolle die Werkverträge in den Bereichen Schlachtung, Zerlegung und Verarbeitung abschaffen. Bis dahin geht die Ausbeutung weiter. Und wer weiß, wie es wird, wenn sich alles wieder beruhigt hat.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Bundeskongress der Jusos
Was Scholz von Esken lernen kann
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag
Schwedens Energiepolitik
Blind für die Gefahren