Revolution der Wohnungslosenhilfe: Nicht nur Gast in der Welt
Engagierte Sozialarbeiter und die Berliner Sozialsenatorin planen grundlegend Neues bei der Wohnungslosenhilfe. Housing First soll Prinzip werden.
W enn ich keine Bleibe hatte“, sagt Carl_a, „dann bin ich durch die Nacht gelaufen.“ Ohne Schlaf. „Ich existierte im Dazwischen.“ Heute aber sitzen wir auf einer Parkbank, die mal weiß war, am Boxhagener Platz in Berlin. Alle paar Minuten beugt sich einer über den Mülleimer neben der Bank, eine Menge Flaschensammler sind unterwegs. „Come as you are“ schrabbelt jemand irre laut auf der E-Gitarre. Auf der Wiese zwischen historischem Klohaus und Spielplatz feiern die Leute die letzten starken Sonnenstrahlen des Jahres.
Carl_a ist 35, war sieben Jahre wohnungslos und kennt die Heime und Notunterkünfte für Obdachlose. Carl_a ist nichtbinär, daran haben sich schon einige gestoßen und auch das ist Teil der Geschichte. Er_sie trägt hier einen anderen Namen als da draußen.
Weil Berlins linke Sozialsenatorin Elke Breitenbach den Umgang mit Obdachlosigkeit revolutionieren will, hat Carl_a jetzt eine Wohnung – die erste eigene in Berlin. Aber zunächst „war es auch das System, das mich obdachlos gemacht hat“. Berlin und andere Großstädte verpulvern Millionen in die Verwaltung von Obdachlosigkeit: in Notunterkünfte, Wohnheime, Kleiderstuben, Essensausgaben, Duschmobile – Lösungen auf Zeit, die Elend mildern aber auch verlängern. Der Kreislauf erhält sich selbst. Die meisten bleiben Jahre und Jahrzehnte darin gefangen, bis sie daran zugrunde gehen.
Seit einigen Jahren schwappt in kleinen, zaghaften Wellen ein Gedanke nach Deutschland, der all das in Frage stellt. Was wäre, wenn wir Menschen, die keine Wohnung mehr haben, einfach genau diese wieder verschaffen? Diese so banale wie revolutionäre Idee ist 30 Jahre alt und wurde in einer Stadt geboren, in der täglich Zehntausende Menschen unter Brücken und in Hauseingängen aus dem American Dream erwachen. Die Idee kommt also aus New York und wir sollten uns ihren Namen merken, denn sie wird in aller Welt diskutiert: Housing First. Berlin könnte als erste deutsche Stadt Housing First zum Grundprinzip der Obdachlosenarbeit erklären. Das wäre die Revolution.
Wir rücken zusammen auf der Parkbank, die E-Gitarre dröhnt und Carl_as Stimme ist leise. Er_sie trägt die Haare kurz, Hose und Pulli sind weit, weiße Chucks an den Füßen. Die dicke Jacke liegt über der Bank, fast könnte man T-Shirt tragen in der Oktobersonne. Carl_a dreht eine Tüte und fängt an zu erzählen.
In den letzten Jahren der DDR ist Carl_a geboren, in einer kleinen Stadt bei Berlin. Die Mutter schuftet in der Landwirtschaft, der Vater auf dem Bau. Geheiratet hatten sie nur wegen der staatlichen Wohnungsvergabe und hielten es nicht lange miteinander aus. Die neuen Partner der Mutter sind selten ein Gewinn für Carl_a und die kleine Halbschwester. „‚Die Brut‘ hat uns der Letzte immer genannt.“. Viel getrunken wird in der Familie, die Mutter verschuldet sich. Und die Kinder: „chronisch vernachlässigt“.
Das Prinzip:
Housing First wurde in den 1990ern in den USA entwickelt, weil die traditionelle Wohnungslosenhilfe für Menschen mit multiplen Problemen – häufig Sucht plus psychische Erkrankungen – nicht funktionierte. Bei Housing First kommt ohne Bedingungen erst die Wohnung und dann die Unterstützung bei der Problembewältigung, und auch das nur auf Wunsch der Klient:innen. Es gibt diverse deutsche Modellprojekte, doch in Berlin soll Housing First erstmals ausgeweitet und zum Grundprinzip der Wohnungslosenhilfe werden.
Vorreiter in Europa:
Housing-First-Initiativen gibt es in mehreren europäischen Ländern. Aber keines ist so weit wie Finnland: Hier wurde Housing First bereits 2008 auf nationaler Ebene zum Grundprinzip der Obdachlosenarbeit erklärt. Die Wohnungslosenzahlen sinken stetig, Notunterkünfte und Heime wurden nahezu gänzlich abgeschafft. Laut einer Studie spart Finnland mit Housing First 15.000 Euro pro Jahr und Person. Bis 2027 will Finnland die Wohnungslosigkeit ganz überwunden haben.
Aber Carl_a trägt schon da einen Kosmos an Möglichkeiten in sich. „Das schlaue Kind kam in der Schule gut klar“, sagt Carl_a über sich. Selbst als er_sie mit 14 zum Kinder- und Jugendnotdienst geht, weil es zu Hause nicht mehr geht, selbst als die Depression ihre ersten Schatten wirft: Die Schule läuft. Auf einem ehemaligen Jugendwerkhof wird Carl_a zunächst untergebracht, zieht dann zu den Großeltern. Da säuft zumindest nur der Opa. „Ich war besser aufgehoben, wenn ich mich nicht auf meine Mutter verlasse.“ Mit 15 kommt die Musik ins Leben und die erste queere Beziehung. Das Abi besteht Carl_a mit einem Schnitt von 2,1.
Doch die Depression fordert mehr Raum: „Da war so viel Müdigkeit.“ Vielleicht ist das Dazwischen schon damals Carl_as Zuhause. Eigentlich will er_sie studieren, aber es ist das Los der Arbeiterkinder, sich am Praktischen festhalten zu müssen. Also die Ausbildung in einer Arztpraxis: eigene Kohle, erste eigene Wohnung in der kleinen Stadt bei Berlin. Eine Krise endet in wochenlanger Krankschreibung und schließlich der Kündigung.
Aber Risse lassen immer auch Licht rein: Carl_a zieht zur Partner_in nach Berlin und beginnt ein geisteswissenschaftliches Studium. „Ich habe mich immer wieder aufgemacht.“ Er_sie arbeitet im Verlagswesen und später im Musikgeschäft. Die Depression, die immer da ist, therapiert die tägliche Ration Marihuana.
Als die Beziehung scheitert, zieht Carl_a aus, hangelt sich von Zwischenmiete zu Zwischenmiete. Nirgendwo kommt er_sie dauerhaft unter, die Kommunikation in Hausprojekten und WGs gelingt einfach nicht. Carl_a fühlt sich unverstanden: als Arbeiterkind, als queere Person und als eine_r, der_die irgendwie anders tickt, „eigentlich schon immer“.
Die Bilder:
Die Künstlerin Jana Sophia Nolle baut die Behausungen von Obdachlosen in den Wohnzimmern wohlhabender Menschen nach und fotografiert sie. Begonnen hat sie das „Living Room“-Projekt 2017 in San Francisco und dann in Berlin fortgesetzt. Nolle, Jahrgang 1986, hat Fotografie an der Berliner Ostkreuzschule studiert, neben der Kunst ist sie international als Wahlbeobachterin tätig.
Die Schau:
Aus ihrem Projekt ist ein im Berliner Kerber Verlag erschienenes Buch entstanden: „Living Room, San Francisco 2017/2018“. 64 S., 48 Euro. Und bis 17. Oktober sind ihre Fotografien in Berlin im Haus am Kleistpark zu sehen.
Irgendwann ist Carl_a nur noch Gast auf wechselnden Sofas, das Studium kurz vor Schluss abgebrochen, die Selbstständigkeit in der Musikbranche bringt kein Geld. Auch die Depression verraucht nicht. Den letzten Stoß aus der Gesellschaft führt das Jobcenter aus und zahlt vier lange Monate keine Regelleistungen. „Von allen Seiten lief die Energie aus mir raus.“
So landet Carl_a das erste Mal in der Notunterkunft, im Hilfesystem.
Seit fünf Jahren ist Elke Breitenbach Sozialsenatorin. Ob sie es auch in der neuen Regierung noch sein wird, ist ungewiss, gerade wurde neu gewählt. Jedenfalls hat Breitenbach kürzlich vorgerechnet: Weit über 300 Millionen Euro gibt Berlin für die Notversorgung obdachloser und wohnungsloser Menschen aus. Jedes Jahr. Seit Breitenbachs Amtsantritt sind die Ausgaben noch einmal deutlich gestiegen. „Wir geben hier unglaublich viel Geld aus, was richtig ist, weil es um das Leben und die Gesundheit von Menschen geht“, sagt Breitenbach bei einer Strategiekonferenz im Juni. Sie sagt aber auch: „Wir müssen uns fragen: Ist dieses Geld gut angelegt?“
Die Logik der Leistungsgesellschaft
Das traditionelle System der Wohnungslosenhilfe basiert auf einem Stufenmodell: Wer sich bewährt, bekommt einen Platz in einem Wohnheim, vielleicht zeitweise im betreuten Einzelwohnen und dann irgendwann auch wieder die Chance auf eine Wohnung. Doch der Weg dahin ist voller Anforderungen: Sich regelmäßig melden, Tagesplänen folgen, abstinent sein, nicht auffällig werden.
Fehlverhalten sanktionieren, Wohlverhalten belohnen – das mag in der Logik der Leistungsgesellschaft stimmig sein. Allein: In der Arbeit mit Menschen, die mit harten Suchtproblemen, Ängsten, Psychosen, Depressionen ganz unten gelandet sind, funktioniert es einfach nicht. Das ist frustrierend für die Obdachlosen und für die vielen engagierten Sozialarbeiter:innen gleichermaßen. „Wir verwalten die Obdachlosigkeit nur“, sagt Sozialsenatorin Elke Breitenbach. Und das kann nicht genug sein.
Am Boxhagener Platz zündet Carl_a die Tüte wieder an. Das hilft auch gegen den Gestank von Pisse, der aus dem Klohaus herüberweht. „Dass ich Hilfe brauchte, war mir klar.“ Carl_a wendet sich an ein Projekt für obdachlose Frauen. In Zimmern am Rande der Stadt wird er_sie untergebracht. Auf der Straße hat Carl_a nur Kontakt zu den paar queeren Personen der Szene. „Man lernt sich kennen.“ Die Ausgrenzungserfahrung verbindet.
Es gibt auch Beratung – zu den Bedingungen der Hilfeeinrichtung. „Dir wird ein zeitlicher Rahmen aufgedrückt, du musst dich der Institution unterordnen.“ Carl_a lehnt Hilfen ab, eckt damit an. „Mein Schutz vor Scham war es, mich vor unreflektiertem Paternalismus fernzuhalten, der mir etwas vorschreiben will.“ Die persönliche Freiheit gehört zu den letzten Dingen, die ein Mensch auf der Straße zu verlieren hat. Daran hält Carl_a fest. Aber allein nach einem Zuhause zu suchen: „Dafür fehlte die Kraft.“
Ein Anfang mit zwei Projekten
Mit zwei Housing-First-Projekten hat Berlin 2018 angefangen, eines davon nur für Frauen. In einem der Büros hängen auf blauem Papier die Grundprinzipien von Housing First. „Wohnen ist Menschenrecht“ steht da ganz in der Mitte. Es ist der Abschied vom Stufenmodell der traditionellen Wohnungslosenhilfe, bei dem sich obdachlose Menschen erst als „wohnfähig“ beweisen müssen. Housing First – Wohnung zuerst – der Name sagt es ja schon. Es geht nicht um ein Zimmer im Wohnheim, auch nicht um eine Wohnung, in der obdachlose Menschen als Zwischenlösung für ein paar Monate unterkommen. Es geht um die eigene Wohnung mit eigenem, unbefristetem Mietvertrag.
Mehr als 80 Wohnungsschlüssel sind durch Housing First in Berlin seit 2018 übergeben worden. An Menschen, die vorher in Zelten und unter Brücken campierten. Menschen mit schweren Suchterkrankungen und psychischen Beeinträchtigungen. An Großmütter und an Menschen, die noch nicht lange erwachsen sind. Zwei Bedingungen stellt das Programm: Die Person muss ansprechbar sein und die Wohnung selbst bezahlen können – in der Regel aus Sozialleistungen.
Ein weiterer Grundsatz: Housing First ist nicht Housing Only. „In dem Augenblick, in dem die Wohnung da ist, beginnen wieder die Probleme, die schon einmal dazu geführt haben, dass die Person auf der Straße lebte“, sagt eine Psychologin aus dem Projekt. Ohne Ansprechpartner und Betreuung geht es also nicht – auch nicht für die Vermieter:innen, sowohl städtische Wohnungsgesellschaften als auch private Immobilienkonzerne. „Die haben Angst, dass sie sonst mit einer zugemüllten Wohnung und Mietrückständen allein dastehen“, sagt ein Mitarbeiter, der ausschließlich dafür da ist, die Wohnungen für Housing First auf dem angespannten Berliner Mietmarkt zusammenzusammeln.
Es ist ein Miteinander, das die Macht zwischen Obdachlosen und ihren Betreuer:innen anders verteilt. „Ich sage gern, die Klientinnen sind unsere Arbeitgeberinnen“, erklärt die Leiterin des Projekts für Frauen. Die Sozialarbeiter:innen, Psychologinnen und Sozialbetreuer:innen unterstützen bei der Suche nach Therapieplätzen, Entschuldung, beraten beim Putzen und Einkaufen, bei der Wohnungseinrichtung und Vernetzung mit anderen ehemaligen Obdachlosen.
Aber: Ohne Druck und ohne Sanktionen. Auch das steht auf den blauen Zetteln im Housing-First-Büro. Es ist nicht allzu erstaunlich, dass es dieses umgekehrte Machtgefüge vielen einfacher macht, Hilfen anzunehmen und auch einzufordern. Manche rufen täglich an und kommen wöchentlich im Housing- First-Büro vorbei. Andere melden sich ein halbes Jahr nicht. Die Klient:innen bestimmen das Tempo.
„Kann ich die mitnehmen?“ Eine leere Club-Mate-Flasche wandert in die Tasche eines Flaschensammlers. Carl_a blinzelt müde gegen die tiefe Sonne, aber von der eigenen Wohnung muss er_sie noch erzählen.
Eine Sozialarbeiterin hatte Carl_a auf die Warteliste von Housing First setzen lassen. „Eine eigene Wohnung habe ich überhaupt nicht in Betracht gezogen“, sagt er_sie. Ein Jahr nach dem Einzug ist der Schlaf tiefer geworden, der Stress des Überlebenskampfs fällt ab und das Gefühl der Kontrolle kehrt zurück. Unterstützung ist annehmbar – beim Gang ins ungeliebte Amt zum Beispiel. Und die vielen Interessen, die Musik: All das findet wieder mehr Raum.
„Ich werde meine eigene Institution“, sagt Carl_a, der_die sich ungern einordnet, die Freiheit braucht. Nur selbstbestimmt gibt er_sie ein Stückchen dieser Freiheit auf, um die eigenen Ziele zu erreichen. Gerade hat Carl_a eine Weiterbildung begonnen.
So wie Carl_a leben nach drei Jahren Modellprojekt noch 75 der insgesamt 82 Klient:innen in ihren Housing-First-Wohnungen. Die Erfolgsquote von über 90 Prozent ist auch wissenschaftlich bestätigt. Was bleibt da übrig von dem Glaubenssatz, man müsse erst wohnfähig sein, bevor man es in einer Wohnung schaffen kann? Auch die Ängste der Vermieter:innen haben sich bislang nicht bestätigt. Bis auf verpasste Handwerkertermine habe es kaum Probleme gegeben, heißt es aus dem Projekt. Auf der Anfrageliste der beiden Berliner Housing-First-Projekte stehen 900 Menschen.
„Wir müssen einen gesellschaftlichen Konsens haben, dass wir Obdachlosigkeit nicht mehr nur verwalten, sondern abschaffen“, sagt Sozialsenatorin Breitenbach. In Berlin ist die Modellphase von Housing First Ende September ausgelaufen. Nun soll es Stück für Stück ausgeweitet werden, zum neuen Grundprinzip der Wohnungslosenhilfe. Teurer als bisher sei das nicht, aber nachhaltiger.
In einem Masterplan zur Überwindung von Wohnungs- und Obdachlosigkeit erklärte Breitenbach im September auch, wie sie das Problem des knappen Wohnraums lösen will: Zehn Prozent der Wohnungen, die die landeseigenen Wohnungsgesellschaften neu vermieten, sollen künftig an Housing First gehen. Außerdem sollen Notunterkünfte und Wohnungslosenheime mit staatlicher Förderung in Wohnungen umgebaut werden. Um Wohnungslosigkeit gar nicht erst entstehen zu lassen, soll mehr Geld und Engagement in die Vermeidung von Wohnungsverlust fließen.
Für die große Anzahl von obdachlosen Menschen ohne Leistungsanspruch, viele davon EU-Bürger:innen, müsse der Bund eine Lösung finden, sagt Breitenbach. „Wir können nicht alle Probleme gleich lösen, aber wir müssen anfangen.“ Jetzt muss sich zeigen, ob auch die neue Berliner Regierung dafür den Willen aufbringt. Sind wir uns wirklich einig, dass wir Obdachlosigkeit in dieser Stadt nicht länger ertragen?
Am Boxhagener Platz schrabbelt Nirvana zum zweiten Mal über die Gitarrensaiten. Die Sonne schafft es nicht mehr über die Häuser, Oktoberkälte kriecht in die Kleider. Die Nächte werden jetzt schon bitter: gerade mal drei Grad über null. Carl_a hat die dicke Jacke angezogen, beim Abschied zögert er_sie kurz. „Ich muss erst überlegen, wo ich jetzt hingehe.“ Vielleicht läuft er_sie auf Berlins Straßen noch ein Stück durch den Abend. Vielleicht geht Carl_a auch einfach in die eigene Wohnung. „Hier draußen ist ganz schön viel Scheiß, vor dem man sich zu Hause verkriechen kann.“
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