Repression in der Türkei: Massen auf den Straßen – und in den Knästen
Hunderttausende demonstrieren weiter in der Türkei, der Staat reagiert mit Gewalt und Festnahmen. Wer übernimmt nun die Kontrolle über Istanbul?

„Volksrevolution“ titelte die oppositionelle Zeitung Cumhuriyet am Montag angesichts der Millionen, die den gesamten Sonntag über in der ganzen Türkei gegen die Verhaftung des Istanbuler Oberbürgermeisters Ekrem İmamoğlu protestiert hatten. Nicht nur in Istanbul – wo am Sonntagabend vor dem Rathaus in Saraçhane erneut mehrere Hunderttausend Menschen demonstrierten –, sondern auch in vielen kleinen Städten der Türkei gingen praktisch in jeder Provinz des Landes die Menschen auf die Straße.
Selbst in der Heimatstadt des Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan, Rize am Schwarzen Meer, marschierten Tausende durch die Stadt und forderten seinen Rücktritt. Bisher hatte dessen AKP dort immer mit 70 Prozent und mehr die Wahlen gewonnen.
Am Sonntag führte die CHP, die Partei İmamoğlus, außerdem eine Abstimmung durch, mit der İmamoğlu zum Präsidentschaftskandidaten der Partei gewählt wurde. Dabei gab es für Nichtparteimitglieder eine extra Urne, mithilfe derer sie ihre Solidarität mit İmamoğlu bekunden konnten. Insgesamt stimmten 15 Millionen Menschen für İmamoğlu ab, 1,7 Millionen davon sind Parteimitglieder der CHP.
Um die Proteste zu unterbinden, geht die Polizei immer radikaler vor. Es gab Hunderte Verletzte, die durch Reizgas und Schlagstock teils so lädiert wurden, dass sie ins Krankenhaus kamen. Am Sonntag wurden außerdem weitere 323 Menschen festgenommen. Insgesamt sind nach offiziellen Angaben seit Beginn der Proteste am letzten Mittwoch 1.133 Verdächtige wegen „illegaler Aktivitäten“ festgenommen worden.
Proteste gehen weiter
Am frühen Montagmorgen ging die Polizei dann gegen missliebige Journalisten vor. Wie die Journalistengewerkschaft Basin-Is mitteilte, wurden 10 ReporterInnen von oppositionellen TV- und Printmedien im Morgengrauen in ihren Wohnungen festgenommen, darunter der bekannte Kolumnist der Zeitung Birgün Barış Ince gemeinsam mit seiner Frau.
Wie seit der Festnahme von İmamoğlu am letzten Mittwoch gingen am Montag außerdem die Massenproteste gegen die Verhaftung des Istanbuler Oberbürgermeisters weiter. Ein Schwerpunkt neben dem Rathaus in Saraçhane war das Rathaus des Istanbuler Bezirkes Şişli.
Am Tag der Verhaftung von İmamoğlu wurden neben ihm selbst 91 Personen aus seinem Umfeld und dem der Istanbuler CHP festgenommen, darunter auch der Bezirksbürgermeister von Şişli, Resul Emrah Şahan. Şahan muss ebenfalls in U-Haft. In Şişli hat Präsident Recep Tayyip Erdoğan nun im Kleinen getestet, was er offenbar auch für die gesamte Großstadt Istanbul vorhat: Şişli bekam noch am Sonntagabend einen formal vom Innenminister eingesetzten Zwangsverwalter, der Montagfrüh in Begleitung der Polizei sein Amt antrat.
CHP befürchtet Einsetzung von Zwangsverwalter
Seit Ekrem İmamoğlu bei der Wahl 2019 Istanbul gewann und damit die 25-jährige Herrschaft der AKP und ihrer islamistischen Vorgängerpartei beendete, versucht Erdoğan die Stadt mit allen Mitteln wieder unter seine Kontrolle zu bekommen. Nachdem İmamoğlu in drei Wahlen gezeigt hat, dass er an der Urne durch Erdoğan und seine Vertreter nicht zu schlagen ist, erfolgte nun seine Verhaftung, Einweisung in die U-Haft und Suspendierung vom Amt.
Die CHP-Spitze um Parteichef Özgür Özel befürchtet nun, dass Erdoğan wie in Şişli einen vom ihm ernannten Zwangsverwalter einsetzen will, um die Stadt mit Gewalt wieder unter seine Herrschaft zu bringen.
Laut Gesetz wäre das möglich, wenn der Amtsinhaber wegen Zusammenarbeit mit Terroristen angeklagt ist. Nun taucht dieser Vorwurf im gesamten Konvolut der Anschuldigungen durch die Staatsanwaltschaft zwar auch auf, der Haftrichter hat İmamoğlu aber „nur“ wegen der Korruptionsvorwürfe in die U-Haft in das berüchtigte Gefängnis nach Silivri geschickt, wo schon etliche andere Kritiker Erdoğans einsitzen.
Ginge es nach Recht und Gesetz, könnte die CHP, die im Stadtparlament eine komfortable Mehrheit hat, nun einen kommissarischen Bürgermeister aus ihren Reihen wählen, bis die Vorwürfe gegen İmamoğlu geklärt sind. Doch wird der Wille des Volkes ausreichen, um die Zwangsverwaltung Istanbuls zu verhindern?
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