Rennradprofi Guillaume Martin als Autor: Ansichten eines Peloton-Philosophen
Guillaume Martin macht sich in einem Essay Gedanken über eine strampelnde Meute, die vielleicht sogar als Spiegel der Gesellschaft taugt.
W as einem eben so einfällt, wenn man auf dem Rad unterwegs ist. Die Gesellschaft als ein Pulk von Rennradfahrern. Der Kampf des Einzelnen um den Sieg, der doch nur errungen werden kann, wenn man sich der Unterstützung einer Mannschaft gewiss sein kann. Das Peloton als sich selbst organisierende Gruppe mit Riten, aber ohne feste Regeln.
Das Beschwören des Gemeinsinns im Sport, der dann doch von der Überhöhung seiner Stars lebt. Guillaume Martin, im vergangenen Jahr Achter im Gesamtklassement der Tour de France, hat einen Essay verfasst. Der rennradelnde Philosoph mit Uni-Diplom hat sich so seine Gedanken gemacht über den Radsport, die Welt und überhaupt. „Die Gesellschaft des Pelotons“ heißt das Buch, das jüngst bei Covadonga erschienen ist.
Wer es heute mit der frischen Erinnerung an spektakuläre Etappen bei der Tour de France dieses Jahres liest, für den ist es eine gedankliche Fernfahrt durch den Sinn und Unsinn von Attacken, zu den taktischen Meisterleistungen eines Teams oder dem Sportsgeist, den Zweitplatzierte zeigen, auch wenn sie wissen, dass im Radsport immer nur der Sieger gefeiert wird. Und dann wird über die kleine Radsportwelt die ganze Gesellschaft beschrieben. Wie viel Kontrolle braucht sie? Wie viel Individualismus ist noch gesund für etwas, was wir Gemeinwesen nennen?
Über den Radsport ist das schnell erklärt. Auch da werden Hierarchien nicht mal eben so aufgebrochen. Das Risiko, Veränderungen könnten die Lage nicht verbessern, wird als zu groß angesehen. Und so verlassen sich die Chefs am Ende doch auf den bewährten, in die Jahre gekommenen Kapitän, auch wenn sie ahnen, dass da ein junger Fahrer nachkommt, der es besser könnte. Und ebenjener begabte Fahrer ordnet sich unter, weil er am Ende doch die Verantwortung scheut, mit der die Führungsrolle verbunden ist.
Fügsam oder rebellisch?
Guillaume Martin argumentiert in der Chefposition. Er ist bei dem Mehretappenrennen der Kapitän seines Teams Cofidis. Er ist sich seiner Rolle bewusst, wenn er mit dem Finger auf die Leserinnen und Leser zeigt und fragt, ob wir es nicht bei aller Unzufriedenheit am Ende besser finden, wenn sich an den bestehenden Strukturen nichts ändert.
So einfach ist die Welt, nicht schwerer zu verstehen als ein Radrennen. Wir bleiben lieber Wasserträger, weil wir uns damit auskennen: „Das erklärt, warum die Volksaufstände der Schwächsten so selten sind, obwohl diese allen Grund dazu hätten …“ Da weiß einer Bescheid, der seinen Kant gelesen hat, dessen Satz „Wir können nicht mit den anderen leben, aber auch nicht ohne sie“ so etwas wie das Motto von Martins Überlegungen ist.
Und doch wird er nicht müde zu betonen, dass die „politische Korrektheit“, mit der der Sport so oft beschrieben wird, nichts als eine Lüge ist. Wenn von Gemeinschaft aller Sporttreibenden die Rede ist, vom olympischen Ideal, nachdem der Gewinner nicht mehr wert ist als all diejenigen, die er geschlagen hat, platzt ihm schier der Kragen. Als Sportler, meint er, wolle man gewinnen. Immer. Er könnte recht haben: Selbst der ambitionierte Freizeitradler ist erst dann richtig zufrieden, wenn ihm nach getaner Strampelei ein Blick auf die Uhr die Gewissheit verschafft, gut unterwegs gewesen zu sein.
In diesem Jahr musste Martin die Tour vor der 9. Etappe wegen eines positiven Coronatests verlassen. Sein Team musste sich neu organisieren, einer der Helfer in die Chefrolle schlüpfen. Es war Simon Geschke, der 36 Jahre alte Berliner, der um ein Haar die Bergwertung der Tour gewonnen hätte. Was uns das wohl über die Gesellschaft sagt?
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