Renaissance des Staates: Der neue Charme der Planwirtschaft
Der Markt ist schön bunt, bietet aber leider für wesentliche Bedürfnisse keine Lösungen. Megakonzerne wie Walmart oder Amazon wissen das längst.
Von US-Präsident Ronald Reagan stammt ein Satz, der das neoliberale Dogma bestens zusammenfasst: „In der englischen Sprache sind die furchtbarsten neun Wörter ‚Ich bin von der Regierung und will Ihnen helfen‘.“ Der Markt gilt als Hort der Freiheit und der Leistung, während der Staat angeblich nur stört.
Doch diese Sicht ist falsch, wie zuletzt die Coronakrise zeigte. Als die Pandemie im März 2020 Europa erreichte, wurden die Börsianer panisch: Der deutsche Aktienindex DAX brach um 40 Prozent ein – und wäre weiter in die Tiefe gerauscht, wenn nicht die Bundesregierung eingegriffen und Milliarden Euro in die Wirtschaft gepumpt hätte. Ohne den Staat hätte es keinen „Markt“ mehr gegeben.
Auch die Klimakrise ist nur zu überstehen, wenn der Staat plant. Denn der Ökostrom wird nicht von selbst fließen. Photovoltaik, Windräder, neue Stromnetze, Ladesäulen, Batteriespeicher, grünen Wasserstoff, weitere Bahnstrecken, zusätzlichen Nahverkehr, Wärmepumpen und Massen von E-Autos wird es nur geben, wenn der Staat lenkt, forscht, finanziert und subventioniert. Der Klimaschutz ist eine Planungsorgie. Also taucht eine Diskussion wieder auf, die schon entsorgt schien, nachdem der sowjetische Sozialismus so spektakulär zusammengebrochen war: Wozu braucht man den „Markt“ überhaupt? Würde es nicht besser laufen, wenn der Staat die Wirtschaft allein steuert?
Vorbild Reichspost
Daum, Timo / Nuss, Sabine (Hrsg.), Die unsichtbare Hand des Plans. Koordination und Kalkül im digitalen Kapitalismus (Dietz 2021)
Malm, Andreas, Corona, Climate, Chronic Emergency. War Communism in the 21st Century (Verso 2020)
Mazzucato, Mariana, Mission Economy. A Moonshot Guide to Changing Capitalism (Allen Lane 2021)
Phillips, Leigh / Rozworski, Michal, People´s Republic of Walmart. How the World´s Biggest Corporations Are Laying the Foundation for Socialism (Verso 2019)
Die kanadischen Sozialisten Leigh Phillips und Michal Rozworski haben nämlich eine Art marxistische Dialektik im Kapitalismus ausgemacht: Ausgerechnet privatwirtschaftliche Mega-Konzerne wie Walmart oder Amazon sind intern knallharte Planwirtschaften. Dieses Wissen könnte sich der Staat doch zunutze machen.
Nun ist es nicht neu, dass Unternehmen intern planen. Wie sich bei Timo Daum und Sabine Nuss nachlesen lässt, war schon Lenin begeistert, wie perfekt die deutsche Reichspost funktionierte, und wollte sie zum Modell seiner sowjetischen Planwirtschaft erheben. 1917 schrieb er: „Unser nächstes Ziel ist, die gesamte Volkswirtschaft nach dem Vorbild der Post zu organisieren.“
Dieses Vorhaben ist bekanntlich gescheitert. Die Sowjetunion war zwar eine Planwirtschaft – aber nicht effizient. Ein Grund war, dass die nötigen Daten fehlten. Die Sowjets produzierten 12 Millionen Artikel in etwa 50.000 Fabriken, und ständig kam es zu Stockungen, weil irgendwo Rohstoffe, Ersatzteile oder Zwischenprodukte fehlten.
Doch dieses Datenproblem sei jetzt behoben, glauben Phillips und Rozworski. Denn Amazon und Walmart sind nicht nur gigantische interne Planwirtschaften – sie sind auch komplett digitalisiert. Die Konzerne können in Echtzeit verfolgen, wo sich jede einzelne Ware befindet. Zudem steuern die Algorithmen nicht nur die eigene Firma, sondern auch Lieferanten und Kunden.
So operiert Amazon mit einem Programm namens „Vendor Flex“, das den Absatz sofort an die Hersteller zurückmeldet. Wird zum Beispiel Verbandspflaster stark nachgefragt, wird Johnson & Johnson informiert, dass es die Produktion seiner Wundabdeckungen hochfahren muss. Amazon verkauft also nicht nur Waren, sondern organisiert gleichzeitig die Lieferketten.
Stalin des Onlinehandels
Neben dem Angebot wird auch die Nachfrage gesteuert, indem den Kunden nahegelegt wird, welche Artikel sie noch kaufen könnten, kaum dass sie eine Ware bestellt haben. Diese personalisierten Empfehlungen funktionieren bestens, so dass Milliarden von Einzelwünschen kein Chaos mehr sind – sondern vorhersehbarer Absatz. Big Data macht sozialistische Planwirtschaft endlich leicht, finden zumindest Phillips und Rozworski und ernennen Amazon-Gründer Jeff Bezos zum „kahlköpfigen, schnurrbartfreien Stalin des Onlinehandels“.
Der Umsatz von Amazon ist inzwischen drei Mal so groß wie die Wirtschaftsleistung der einstigen Sowjetunion – und ähnlich gewaltig sind die Geschäfte von Alibaba, der chinesischen Handelsplattform. Ihr Gründer Jack Ma ist ebenfalls überzeugt, dass die neue Datentechnik es möglich macht, „die Planwirtschaft zu verwirklichen“.
Doch so eindrucksvoll Walmart, Amazon und Alibaba sein mögen: Es wäre allzu eng, den Kapitalismus auf den „Markt“ zu reduzieren. Es ist nur bedingt interessant, dass die Handelsfirmen bestens über ihre Kunden informiert sind. Denn der Kern des Kapitalismus ist nicht der Tausch, sondern es sind die Investitionen und die Entwicklung neuer Produkte. Amazon verkauft vom Grill bis zum Ehering alles, was das Herz begehrt – aber der Onlinehändler kümmert sich nicht darum, wie bessere Medikamente oder effiziente E-Autos entstehen.
Es wäre also nicht viel gewonnen, wenn der Handel mit Babywindeln oder Fantasyfilmen künftig staatlich abgewickelt würde. Das wäre eine etwas öde und statische Planwirtschaft. Die eigentliche Frage ist: Kann der Staat auch Fortschritt?
Milliardäre wissen Bescheid
Neoliberale glauben hartnäckig, nur der „freie Markt“ würde Innovationen hervorbringen. Doch das Gegenteil ist richtig: Die wichtigen Erfindungen stammen fast alle aus staatlichen Laboren oder wurden öffentlich subventioniert, wie die amerikanisch-italienische Ökonomin Mariana Mazzucato akribisch nachgewiesen hat. Dies gilt fürs Internet genauso wie für Solarpaneele. Auch die leistungsstarken Corona-Impfstoffe hätte es nicht gegeben, wenn die Staaten nicht schon seit Jahren die Biotechnologie der mRNA-Botenstoffe gefördert hätten.
Die meisten Milliardäre wissen genau, was sie am Staat haben. Bill Gates gab kürzlich zu: „Das PC-Geschäft – inklusive Microsoft – wäre niemals ein so großer Erfolg geworden, wenn nicht die US-Regierung in die Entwicklung von kleineren, schnelleren Mikroprozessoren investiert hätte.“ Und Anleger-Papst Warren Buffet wirbt seit Jahren dafür, dass die Superreichen mehr Steuern zahlen sollten, denn „ein sehr bedeutsamer Anteil“ seiner Einkünfte sei der Gesellschaft zu verdanken. Der Staat war schon immer wichtig. Private Großunternehmen konnten auch früher nur florieren, wenn sie ihre Regierungen als Kunden hatten.
Die heutige Weltfirma Siemens wäre im 19. Jahrhundert gescheitert, wenn nicht das russische Zarenreich und das preußische Königreich immer wieder Telegrafenleitungen bestellt hätten.
Zudem macht der „Markt“ nur einen Teil der Wirtschaft aus. Oft ist es effizienter, auf private Unternehmen zu verzichten. Ob Schulen, Straßen, Bahnen, Krankenkassen, Wasserwerke oder Stromnetze: Die Versorgung der Allgemeinheit funktioniert besser und ist billiger, wenn der Staat übernimmt.
Gemischtes System
Der Kapitalismus war also noch nie eine „Marktwirtschaft“, sondern immer ein gemischtes System: Staatliche Stellen und private Unternehmen wirken engstens zusammen. Aber was bedeutet das für die Zukunft, wenn auch noch der Klimawandel zu bewältigen ist?
Der schwedische Sozialist Andreas Malm ist überzeugt, dass es zu einem „ökologischen Leninismus“ kommen muss – nur ohne Lenin. Denn eine kommunistische Diktatur will auch Malm nicht. Ganz demokratisch soll der „Widerstand der herrschenden Klassen“ gebrochen werden, auf dass der Staat eine klimaneutrale Welt plant.
Aber diese Planungseuphorie wirkt dann doch übertrieben. Nur weil die Neoliberalen die Rolle der privaten Unternehmen völlig falsch beschrieben haben, folgt daraus nicht zwangsläufig, dass eigenständige Firmen ganz unwichtig wären.
Um auf die zentrale Planwirtschaft sowjetischen Typs zurückzukommen: Sie ist nicht nur daran gescheitert, dass es nicht genug Daten gab. Jeder wusste, dass im Winter Wintermäntel gebraucht wurden. Sie fehlten trotzdem.
Wie Mazzucato zeigt, funktioniert die Wirtschaft am besten, wenn ein starker Staat vorgibt, was private Unternehmen zu tun haben. Dieses „gemischte“ Modell sollte man fortentwickeln.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Hybride Kriegsführung
Angriff auf die Lebensadern
BSW in Koalitionen
Bald an der Macht – aber mit Risiko
Dieter Bohlen als CDU-Berater
Cheri, Cheri Friedrich
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
Selbstzerstörung der FDP
Die Luft wird jetzt auch für Lindner dünn