Regisseur über Film „The Secret Agent“: „Ich wollte das Unsichtbare erzählen“
Der Film „The Secret Agent“ von Kleber Mendonça Filho zeigt, wie es sich anfühlt in einer Diktatur. Ein Gespräch mit dem Regisseur über autoritäre Fantasien.
Mit „Aquarius“ und „Bacurau“ wurde Kleber Mendonça Filho zu einer der markantesten Stimmen des brasilianischen Kinos. Sein neuer Film „The Secret Agent“ führt ihn zurück ins Jahr 1977 – in eine Zeit der Zensur, des autoritären Drucks und zugleich der kulturellen Kreativität. Zwischen persönlicher Erinnerung und politischer Analyse verwebt Mendonça Filho die Geschichte eines Mannes im Schatten der Diktatur zu einer Reflexion über Macht, Männlichkeit und das Kino selbst. Nun geht „The Secret Agent“ als Brasiliens Beitrag ins Oscar-Rennen.
taz: Herr Mendonça Filho, Ihr neuer Film „The Secret Agent“ spielt 1977, mitten in der brasilianischen Militärdiktatur. Warum gerade dieses Jahr?
Kleber Mendonça Filho: 1977 war ein entscheidendes Jahr – politisch und kulturell. Die Demokratie war praktisch abgeschafft, die Zensur allgegenwärtig. Viele Filme wurden verboten oder beschnitten, „A Clockwork Orange“ etwa durfte erst mit schwarzen Punkten über den Genitalien gezeigt werden. Diese grotesken Eingriffe sagen viel über das Klima jener Zeit. Mich interessierte diese Spannung: das Bedürfnis nach Ausdruck in einer Atmosphäre der Kontrolle.
Kleber Mendonça Filho wurde 1968 in Recife im Nordosten Brasiliens geboren. Er studierte Journalismus und arbeitete zunächst vor allem als Filmkritiker und Programmleiter. Sein Langfilmdebüt war der Dokumentarfilm „Crítico“ (2008). 2012 folgte sein erster Spielfilm „Neighbouring Sounds“. Der gemeinsam mit Juliano Dornelles gedrehte Film „Bacurau“ lief 2019 im Wettbewerb von Cannes und gewann dort den Preis der Jury.
taz: War das auch eine persönliche Rückkehr?
Mendonça Filho: Ja. Ich war damals ein Kind, meine Mutter war schwer krank, und wir gingen oft ins Kino. Diese Erinnerungen haben sich tief eingebrannt – Gerüche, Geräusche, das Licht im Saal. Beim Schreiben merkte ich, dass ich eigentlich auch über das heutige Brasilien schreibe. Die Mechanismen der Angst und der Macht sind dieselben geblieben, nur die Sprache hat sich verändert.
taz: Inwiefern?
Mendonça Filho: In den letzten Jahren hat Brasilien eine dramatische Rechtsverschiebung erlebt. Viele sehnen sich nach den „guten alten Zeiten“ der Diktatur, was grotesk ist. Daraus entstand der Bolsonarismus: die Rückkehr autoritärer Fantasien, maskiert als Ordnung und Patriotismus. „The Secret Agent“ spielt 1977, aber er erzählt von 2025.
taz: Sie haben während Bolsonaros Amtszeit mit dem Schreiben begonnen. Wie war das möglich?
Mendonça Filho: Schwierig. Das Kulturministerium wurde abgeschafft, die Filmförderung praktisch lahmgelegt. Ich hatte etwas Geld übrig von meinem vorherigen Film und schrieb weiter, auch um nicht verrückt zu werden. Erst mit Lulas Rückkehr kam wieder Struktur in die Kulturpolitik. Heute funktioniert das System wieder, wenn auch unter schwierigen Bedingungen.
taz: Ihr Film wirkt politisch, aber nie plakativ. Sehen Sie sich als politischen Filmemacher?
Mendonça Filho: Ich vermeide solche Etiketten. Ich bin kein Oliver Stone. Meine Filme entstehen aus Alltagsbeobachtungen, aus Stimmen und Atmosphären. Vielleicht sind sie politisch, weil sie ehrlich sind gegenüber der Gesellschaft, in der ich lebe. Aber ich schreibe nie mit einer Botschaft, eher mit einer Haltung.
taz: Welche Haltung meinen Sie?
„The Secret Agent“. Regie: Kleber Mendonça Filho. Mit Walter Moura, Maria Fernanda Cândido u.a. Brasilien/Frankreich/Niederlande/Deutschland 2025, 158 Min. Ab 6.11. im Kino
Mendonça Filho: Eine, die sich weigert, Zynismus als Normalität zu akzeptieren. In Brasilien wurde Männlichkeit in den letzten Jahren zu einem politischen Werkzeug. Bolsonaro prahlte damit, nur Söhne zu haben, weil sein Sperma „stark“ sei – und dass seine Tochter der Moment seiner Schwäche gewesen sei. Diese obszöne Symbolik zieht sich durch das gesellschaftliche Denken. „The Secret Agent“ erzählt auch davon: von Vätern, Söhnen, Autorität und Angst.
taz: Sie waren zu der Zeit, in der der Film spielt, neun Jahre alt. Wie erinnern Sie sich an diese Zeit?
Mendonça Filho: Sehr genau. Wir mussten in der Schule marschieren, obwohl es keine Militärschule war. Diese Gesten des Gehorsams waren überall. Ich wollte das körperlich im Film spürbar machen – nicht als historische Rekonstruktion, sondern als Erinnerung, die sich in die Haut eingeschrieben hat.
taz: Wie haben Sie das Brasilien von 1977 rekonstruiert?
Mendonça Filho: Ich kenne Recife in- und auswendig. Ich fotografiere die Stadt seit meiner Jugend. Es war eine Art Spiel: „Diese Straße funktioniert, aber nur aus diesem Winkel.“ Vieles ist verschwunden, aber manchmal genügt ein Blick, ein altes Auto, ein Schatten. Wir sammelten Familienfotos aus den 70ern, keine Modeaufnahmen, sondern echte Bilder. So entstand Authentizität – wie Menschen wirklich aussahen, nicht, wie sie sich darstellen wollten.
taz: Ihre Heimatstadt Recife taucht in fast all Ihren Filmen auf. Warum?
Mendonça Filho: Weil sie ein Universum ist. Niemand fragt Scorsese, warum er immer New York filmt. Recife ist widersprüchlich, linkspolitisch, poetisch – und filmisch unerschöpflich. Es verändert sich ständig, aber seine Seele bleibt gleich. Ich weiß, von welcher Straßenseite eine Einstellung nach 1977 aussieht – und von welcher nach heute.
taz: Die Diktatur ist im Film ständig spürbar, aber nie direkt zu sehen. Warum?
Mendonça Filho: Ich wollte das Unsichtbare erzählen. Viele Filme über die Diktatur zeigen Folter, Gewalt, Überwachung. Mich interessiert, was darunter liegt – das, was man riecht, ohne es zu sehen. Angst, Schweigen, kleine Gesten der Anpassung. Das Unsichtbare ist mächtiger als das Sichtbare. Kino ist Erinnerung. Es ist das Archiv unserer Emotionen. Wir vergessen leicht, wie schnell Gesellschaften in alte Muster zurückfallen. Das Kino erinnert uns daran, ob wir wollen oder nicht.
taz: Sie haben die Hauptrolle für Wagner Moura geschrieben. Warum er?
Mendonça Filho: Weil er Intelligenz und Wärme verbindet. Ich wusste, dass er in diesem Film keine Waffe ziehen und niemandem hinterherlaufen würde. Er trägt die Spannung mit seiner Präsenz. Es war das erste Mal, dass ich eine Rolle für einen bestimmten Schauspieler geschrieben habe.
taz: Sie waren selbst lange Filmkritiker. Schauen Sie heute noch so viele Filme?
Mendonça Filho: Ja, aber anders. Früher sah ich alles, heute nur noch das, was mich wirklich interessiert. Was ich vermisse, ist die Überraschung. Als Kritiker wurde ich oft von Filmen überrascht, die ich gar nicht sehen wollte. Heute passiert das seltener.
taz: Ihr Film wirkt wie eine Liebeserklärung an das Kino selbst.
Mendonça Filho: Das Kino war mein Zufluchtsort. Ich erinnere mich an meine Kindheit über Filme – Carpenter, De Palma, Scorsese, Spielberg. Ich wuchs mit Werken auf, die Haltung hatten, nicht nur Stil. Vielleicht versuche ich, dieses Gefühl wiederzufinden.
taz: Zur Weltpremiere im Mai in Cannes war auch die Kulturministerin anwesend – ein starkes Zeichen. Wie sehen Sie die aktuelle Lage in Brasilien?
Mendonça Filho: Es ist eine Zeit des Wiederaufbaus. Unter Bolsonaro war die Kultur verachtet, Förderungen wurden blockiert. Meine Produzentin – und Lebenspartnerin – musste die Regierung verklagen, um an zugesagtes Geld zu kommen. Jetzt, mit Lula, gibt es wieder Strukturen. Margareth Menezes, unsere Kulturministerin, ist schwarze Musikerin, Popikone – vor wenigen Jahren noch undenkbar. Lula ist kein Zauberer, aber er versteht Kultur als Lebensnerv einer Demokratie. Und nun vertreten wir Brasilien sogar ganz offiziell bei den Oscars.
taz: Was meinen Sie, wäre „The Secret Agent“ unter der vorherigen Regierung möglich gewesen?
Mendonça Filho: Nein. Diese Leute hassten Kunst. Sie konnten die Kulturförderung nicht abschaffen, also sabotierten sie sie. Heute kann man wieder Filme machen – nicht einfacher, aber es ist wieder möglich.
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