Regierung will Flüchtlinge kasernieren: Das Prinzip Abschreckung
Zwanzig Menschen teilen sich ein Bad, die Dusche geht nicht. Es sieht aus wie in einer Ruine. Das ist Bayerns Vorbild für Seehofers „Ankerzentren“.
Nach links führt die Straße zu denen, die das nicht dürfen. Mannschaftswagen der Polizei fahren hier langsam auf und ab, etwa alle zehn Minuten einer. Ein grüner Gitterzaun trennt das Gelände vom Rest der Stadt, darauf drei Reihen Stacheldraht. Hin und wieder rollen Männer auf Kinderfahrrädern heraus.
Hier, in der Aufnahmeeinrichtung Oberfranken, wohnt seit 154 Tagen David Amos aus Nigeria. Er ist 38 Jahre alt, trägt einen weißen Pullover, Jeans und Baskenmütze.
Besuch ist erlaubt. Amos muss ihn durch die Einlasskontrolle begleiten. Zwei Schranken, zwei Wärterhäuschen, ein halbes Dutzend Männer und Frauen in Sicherheitswesten, mit Funkgeräten und Scannern. Sie richten sie auf die Ausweise der Bewohner, schicken sie in einen grauen Metallcontainer, durchsuchen ihre Taschen.
Zwei Straßen durchziehen das Gelände. 1.357 Flüchtlinge wohnen hier an diesem Tag, Mitte April. Männer mit gelben Westen von einem privaten Sicherheitsdienst laufen umher, gefolgt von kleinen Gruppen und Familien. Es sind Neuankömmlinge. Jeden Tag weisen die Behörden sie hier ein. Im Eilschritt führen die Wächter sie herum, zwischen Sozialdienst, Hausmeister, Kantine, Krankenstation, Schule, Sozialamt, Bundesagentur für Arbeit, Zentraler Ausländerbehörde, dem Asyl-Bundesamt und der Antragsstelle des Verwaltungsgerichts. Alles, was der Staat für nötig hält, um Asylbewerber abzufertigen, liegt innerhalb der Zäune. Das ist das Prinzip dieses Lagers.
Von der US-Kaserne zum bayerischen Transitzentrum
69 Jahre lang waren in den Warner Barracks, im Nordosten Bambergs, Amerikaner stationiert. Im September 2014 zogen die 10.000 Soldaten ab. Die Stadt wollte das Gelände kaufen und einen attraktiven Stadtteil für Familien daraus machen. Herausgekommen ist das Gegenteil. Die Bezirksregierung von Oberfranken eröffnete auf dem südlichen Teil des Geländes ein „Transitzentrum“ für Balkan-Flüchtlinge. „Transit“ sollte heißen: praktisch schon wieder auf dem Weg zurück.
David Amos, Asylbewerber
„Wir müssen alles dafür tun, dass die Verfahren schneller werden“, sagte Bayerns Innenminister Joachim Herrmann (CSU) damals. Sechs Wochen bis zur Abschiebung, höchstens, das war das Ziel. Dann „wächst auf dem Balkan die Einsicht, dass es keinen Sinn macht, nach Deutschland zu kommen“. Die CSU pries die Transitzentren als Lösung des sich da gerade auftürmenden „Flüchtlingsproblems“. Bei der Eröffnung im Oktober 2015 reisten Reporter selbst aus Schweden und Kanada an.
Heute kommt fast kein Flüchtling mehr vom Balkan nach Deutschland. Doch die „Einsicht, dass es keinen Sinn macht, nach Deutschland zu kommen“, die möchte die CSU am liebsten in der ganzen Welt verbreiten. Große Lager mit Asyl-Schnellverfahren: Das soll das Kernstück des „Masterplans für Migration“ von Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) werden. Und die bayerischen Transitzentren gelten dafür als Vorbild. „Anker“ sollen die bundesweiten Einrichtungen künftig heißen.
David Amos wohnt in Block 9. Keine Tür lässt sich hier abschließen. 20 Frauen und Männer teilen sich ein Bad, die Dusche funktioniert nicht. Babys schreien, vier bis sechs Menschen leben in einem Raum. Amos führt durch die Flure und Zimmer. Überall hocken Menschen. Mit Laken und Decken haben sie sich ein winziges Stück Privatsphäre abgetrennt. „Servus“, sagen sie, wenn ein Fremder hereintritt.
Amos’ Zimmergenossen sitzen im rechten Trakt im ersten Stock. Einst war hier eine Küche, kaum etwas ist von der übrig. Es sieht aus wie in einer Ruine, die von Obdachlosen bewohnt wird. Amos setzt sich auf einen Stuhl, die anderen Männer starren auf ihre Handys. „Ich bin die meiste Zeit hier drinnen“, sagt Amos. „Wir sitzen immer nur herum. Kein Deutschkurs, keine Arbeit.“ Wo sollten sie hingehen, ohne Geld, fragt er. „In meinem Land werden Weiße gut behandelt. Uns behandelt man hier wie Dreck.“
Der Alltag im Aufnahmezentrum
Eine Tür öffnet sich, eine junge Frau tritt heraus, wortlos geht sie an den Männern vorbei zum Flur. „Hast du sie gesehen?“, fragt Amos „Sie ist verrückt.“ Das gehe vielen hier so. „Die Leute laufen auf und ab, wie Tiere im Käfig“, sagt Amos. „Der Druck, der Stress. Sie fallen einfach um. Die Ambulanz kommt, 30 Minuten später ist dann der Nächste dran.“ Deswegen gebe es die Gewalt im Lager. „Die Securities rufen dann die Polizei und zeigen bloß mit dem Finger auf Einzelne: 'Der, der und der haben Ärger gemacht. Und dann sind sie weg.“
Zwei Verfahren sind deshalb bei der Bamberger Justiz anhängig: Im März begann ein Prozess gegen zwei Flüchtlinge, die im September 2017 Security-Mitarbeiter angegriffen haben sollen. Ihnen wird gefährliche Körperverletzung vorgeworfen. Gleichzeitig ermittelt die Staatsanwaltschaft seit Oktober 2017 gegen drei Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes wegen versuchten Totschlags und gegen einen weiteren wegen gefährlicher Körperverletzung. Sie sollen im September 2017 zwei Bewohner getreten haben.
Verpflegung gibt es in einer riesigen Kantine. „Jeden Tag das gleiche Essen“, sagt Amos Kartoffeln, Brot und Tee. „Nur wenn Reporter angemeldet sind, gibt es mal Hähnchen.“ Essen „mag mitunter Geschmackssache sein“, erklärt die Bezirksregierung dazu. Doch es sei halal, entspreche den religiösen Speisevorschriften der Muslime. Obst, Joghurt und Brötchen dürfen mitgenommen werden.
Die Flüchtlinge, die noch Geld bekommen, haben zusammengelegt für eine elektrische Kochplatte. Und sie legen zusammen für Zutaten. Nachmittags um vier Uhr wird für alle im Trakt gekocht. Reis mit Erdnuss-Soße oder Grießsuppe. Sie müssen mehrmals kochen. Es gibt nur zwei kleine Töpfe.
David Amos' Flüchtlingsgeschichte
Amos hat Familie in Nigeria. Drei Kinder, elf, neun und sieben Jahre alt. Amos sagt, er sei im Niger-Delta politisch aktiv gewesen. „Aktionen gegen Shell“ habe er gemacht. Er floh über Libyen, Milizionäre hätten ihn dort gefangen genommen. Er zieht sein T-Shirt aus. Große Narben ziehen sich über seinen Oberkörper und Rücken. Die anderen am Tisch schauen nicht einmal auf.
Dann, sagt Amos, hätten die Milizionäre Finger seiner linken Hand abgetrennt. Er hält sie hoch. Der kleine, der Ring- und der Zeigefinger sind nur noch Stummel. Er bräuchte Bewegungstherapie, noch ließe sich vielleicht etwas machen, bevor die Hand versteift, sagt er.
Die Gesundheitsversorgung im Transitzentrum sei gut, schreibt die Bezirksregierung. „Der medizinische Dienst ist an jedem Werktag vor- und nachmittags besetzt. Außerhalb dieser Zeiten steht der ärztliche Bereitschaftsdienst zur Verfügung.“ Doch Therapien wie für Amos’ Hand sieht das Gesetz für abgelehnte Asylbewerber nicht vor.
Irgendwann hätten die Milizionäre in Libyen Amos freigelassen, sagt er. Er habe einen Platz in einem Schlauchboot ergattert. Europäische Soldaten hätten ihn nach Sizilien gebracht. Mit seinem Asylverfahren sei es dort nicht vorangegangen. Nach fünf Monaten verließ er Italien Richtung München. Am Hauptbahnhof ging er zur Wache. Am nächsten Tag bekam er ein Zugticket nach Bamberg.
Am 8. November 2017 beantragte David Amos Asyl. Am 23. Februar 2018 wurde der Antrag abgelehnt. Der Grund sei, dass Nigerias Präsident eine Amnestie für Aktivisten wie ihn ausgesprochen habe. „Aber diese Amnestie gibt es in Wirklichkeit nicht“, sagt Amos. Er legte Widerspruch ein.
Auf das absolute Minimum beschränkte Leistungen
Außerhalb der Transitzentren bekommen alleinstehende Asylbewerber regulär 354 Euro Bargeld. Drinnen gibt es, während das Asylverfahren läuft, 100 Euro Taschengeld im Monat, dazu Hygienebedarf und ein Busticket.
Nach der Ablehnung wird das Taschengeld von sogenannten Dublin-Fällen – Flüchtlingen, für die eigentlich ein anderer EU-Staat zuständig wäre – auf null Euro gekürzt. Anfang der vergangenen Woche entschied das Landessozialgericht Bayern allerdings, dass diese Kürzung rechtswidrig sei. Gleichwohl: Auf das absolute Minimum beschränkte Leistungen – auch das ist das Prinzip der Transitzentren.
„Manche tun deswegen Dinge, die nicht gut sind“, sagt Amos.
Was denn?
„Stehlen, dealen.“
„Wenn Flüchtlinge keinen Anwalt bezahlen können, ist ihnen faktisch der Rechtsweg verschlossen“, sagt Alexander Thal, der Sprecher des Bayerischen Flüchtlingsrats. „Dass in Deutschland höhere Sozialhilfesätze als anderswo gezahlt werden, ist kein Ausdruck von Luxus, sondern von sehr hohen Lebenshaltungskosten“, erklärte Jörg Radek, der Vorsitzende der Gewerkschaft der Polizei (GdP) in der Bundespolizei. „Wer meint, ein Leben am Rande des Existenzminimums sei ein Anreiz für eine lebensgefährliche Flucht, nimmt die tatsächlichen Fluchtursachen nicht zur Kenntnis.“ Die Kürzungen würden niemanden abschrecken, nach Deutschland zu kommen, sagt Radek. Die GdP hat erklärt, „keine Lagerpolizei“ in den Anker-Zentren werden zu wollen.
Ein Teil reist „freiwillig“ aus
In Bamberg aber ist Polizei ein ständiger Gast. „Sie kommen jede Nacht“, sagt Amos. Die Ausländerbehörde informiere die Beamten, wer abgeschoben werden soll. Die Polizisten gehen zum Hausmeister des Blocks, der ihnen sagt, in welchem Zimmer die Person untergebracht ist. „Um drei Uhr nachts klopfen sie an der Tür“, sagt Amos. „Alle müssen aufstehen, sich in einer Reihe aufstellen, ihre Ausweise vorzeigen. Dann nehmen sie einen oder zwei mit. Am nächsten Tag sind Neue da, als wäre nichts gewesen“, sagt Amos.
„Abschiebungen erfolgen nicht mitten in der Nacht“, erklärt die Bezirksregierung dazu. Der Beginn der „Zwangsmaßnahme“ sei „in der Regel 6 Uhr“. Das sei nötig wegen der Abflugzeiten an den Flughäfen.
Acht Wochen bleiben die Flüchtlinge im Durchschnitt in Bamberg. Die Statistik der Bezirksregierung Oberfranken weist 1.236 „Abgänge“ von Januar bis März aus – im Schnitt zehn pro Tag. Nicht alle sind Abschiebungen, ein Teil reist „freiwillig“ aus. Wie viele genau, wird nicht gesondert ausgewiesen.
Etwa 350 Kinder und Jugendliche im schulpflichtigen Alter leben in dem Transitzentrum Bamberg. Der Flüchtlingsrat spricht von „Pseudo-Unterricht“, der für sie angeboten werde. In „Übergangsklassen“ finde „Schulunterricht sowohl im Grund- und Mittelschulbereich als auch für berufsschulpflichtige Asylsuchende statt“, schreibt hingegen die Bezirksregierung.
Mitte April wollten die Grünen im Landtag von Bayerns Kultusminister Bernd Sibler wissen, was man sich genau unter dem Lagerunterricht vorzustellen habe. Es kam heraus: Für die rund 350 SchülerInnen sind ganze vier staatliche Lehrer da, dazu kommen stundenweise vier weitere LehrerInnen der Volkshochschule Bamberg.
Amos bekommt einen neuen Mitbewohner
Schon im März 2018 allerdings hatte das Verwaltungsgericht München drei Familien aus den bayerischen Transitzentren Recht gegeben, die verlangten, dass ihre Kinder eine reguläre Schule außerhalb des Lagers besuchen dürfen. Die „Übergangsklassen“ seien „nicht geeignet, den Besuch einer Regelschule zu ersetzen“, entschieden die Richter.
Zwei Tage nach Ostern kommen neue Bewohner im Trakt von David Amos an. Einer ist Afanwi Ngeh Nfoneh. Der Kameruner hat die letzten Monate in einem Flüchtlingsheim in München gelebt. Sein Asylverfahren läuft noch. „Sie haben uns geholt und gesagt: ‚Ihr kriegt jetzt Wohnungen.‘ Wir sollen unsere Sachen packen und alle in den Bus steigen“, berichtet er.
Tatsächlich seien sie nach Bamberg gefahren worden. Bis tief in die Nacht hätte die Registrierung gedauert. Am Ende gab es nichts zu essen. Jetzt sitzt Nfoneh an Amos’ Küchentisch. Was nun aus ihm werden soll?
„Ich habe keine Ahnung.“
Er holt seine Aufenthaltserlaubnis aus der Tasche. „Sie nehmen den Ausweis und stempeln ‚erloschen, erloschen, erloschen, erloschen, erloschen, erloschen‘, auf jede einzelne der sechs Seiten. Und dann sollst du motiviert zum Deutschkurs gehen?“
In München habe er einen Kurs beim bayerischen Roten Kreuz besucht. „Ich war der Beste in meiner Klasse.“ Am Dienstag war er noch da, Mittwoch wurde er nach Bamberg gebracht. „Sie werden denken, ich bin untergetaucht.“ Im Transitzentrum gibt es Deutschkurse nur für einen eng begrenzten Kreis von Nationalitäten, etwa Eritreer. Kamerun gehört nicht dazu. „Schlechte Bleibeperspektive“ heißt das.
Nfoneh ist Lkw-Fahrer. Manchmal hofft er, am Ende doch in Deutschland bleiben zu können. In solchen Momenten hat sich Nfoneh vor einen Computer gesetzt, auf monster.de nach Stellen gesucht und seinen Lebenslauf verschickt. Einmal hatte Nfoneh Glück. Gudrun Gaus, die Leiterin der Spedition F.A. Kruse aus Brunsbüttel, meldete sich. Der Anruf kam, als Nfoneh schon im Bus nach Bamberg saß. „Sie wollten weitere Unterlagen von mir“, sagt Nfoneh.
Gaus erinnert sich an das Gespräch. „Eingeladen haben wir ihn noch nicht“, sagt sie. In Nfonehs Bewerbung habe die Arbeitserlaubnis gefehlt. „Die sollte er uns schicken, bevor er zum Vorstellungsgespräch kommen könnte“, sagt sie. „Aber er hat sich nicht wieder gemeldet.“ In der Zwischenzeit habe sie einen geflüchteten Syrer eingestellt.
Platz für insgesamt 3.500 Menschen
Während des Verfahrens dürfen Asylbewerber wie Nfoneh ab dem vierten Monat in Deutschland eine Arbeit annehmen. Aber das gilt nicht, wenn sie in ein Transitzentrum kommen. Hier gilt: Arbeitsverbot. Auch das ist das Prinzip der bayerischen Lager.
Für Seehofer hat die Errichtung der neuen Anker-Zentren nach bayerischem Vorbild höchste Priorität. Völlig unklar aber ist, wohin sie kommen sollen. Wahrscheinlich ist, dass das Bamberger Lager einfach vergrößert wird. Für insgesamt 3.500 Menschen wäre in den Kasernen Platz. „Die Stadt ist heute nicht überfordert“, sagt der Oberbürgermeister Andreas Starke dem Portal InFranken. Sie „wäre es aber dann, wenn die falschen Vorstellungen der Landesregierung Wirklichkeit werden würden, nämlich auf 3.500 aufzustocken“.
Schon heute müssen abgelehnte Asylbewerber bis zu zwei Jahre in den Transitzentren bleiben, wen sie nicht vorher abgeschoben werden können. Stammen sie aus „sicheren Herkunftsstaaten“, sollen sie unbegrenzt im Lager bleiben, wenn sie nicht ausreisen. Das will Seehofer künftig bundesweit. Dass die Bewohner dort „lagermäßig eingesperrt“ würden, nennt er ein „Schauermärchen“. Formal hat er damit recht: Die Bewohner des Transitzentrums dürfen die Einrichtung stundenweise verlassen, etwa, wenn sie in die Stadt gehen wollen.
Die Gewerkschaft der Polizei verabschiedete in der vergangenen Woche in Berlin eine Erklärung gegen die „jahrelange Kasernierung und Isolation von Schutzsuchenden“. Für die Sicherheit im Land sei es deutlich besser, „gegenüber hunderttausenden Menschen keine Politik der jahrelangen gesellschaftlichen Ausgrenzung zu verfolgen“.
Drei Wochen später, der nächste Besuch bei David Amos. Der Kameruner Nfoneh ist nicht mehr da. Amos weiß nicht, wohin er gekommen ist.
„Sie holen alle ab, bringen sie weg, jede Nacht“, sagt er. Manche der Flüchtlinge verstecken sich in der Nacht, sagt er. „Sie schlafen in anderen Zimmern.“ Viele Nigerianer seien darunter. „Sie holen sie aus anderen Städten und dann schicken sie sie von hier aus zurück nach Nigeria.“ Amos fürchtet sich davor, selbst zurück zu müssen.
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