Referendum in Griechenland: „Uns bleiben drei Tage“
Am Sonntag stimmt Griechenland über weitere Sparpläne ab. Wie Athens Politgruppen auf der Straße versuchen, zu überzeugen.
Doch die Leute ignorieren ihn. Wie ein kalbender Gletscher, zentimeterweise, schiebt sich die Masse aus allen Ausgängen. Die Menschen draußen begrüßen sie klatschend. Fast alle tragen an diesem Abend EU-Fähnchen, einige haben ein Exemplar in der Größe eines Busses genäht.
Wie eine Osterprozession schleppen sie sie über ihren Köpfen vor dem Parlamentsgebäude auf und ab. Polizisten stehen an der Seite, sie tragen Gurte mit Tränengaskartuschen auf der Brust. Aber die werden sie heute nicht brauchen. Die Freunde der Haushaltsdisziplin neigen nicht zu Krawall.
Ja zum „Nai“
Die Demonstranten tragen Anzüge, Krawatten, Kleider, Schmuck. Oberschicht. Sie rufen im Chor nach Tsipras Rücktritt und recken ihre Fäuste in Richtung des rosafarbenen Parlaments, als stünde der ungeliebte Ministerpräsident dort auf der Balustrade. Der Regen setzt ein. Aus der Menge ragt ein Plakat mit der Aufschrift „Don‘t Varoufuck Greece“, der Träger, ein Mittvierziger, hat seinen weißen Polokragen hochgestellt. Er spricht Englisch, als habe er in Großbritannien studiert. „Wir hoffen, dass die Rationalität siegt“, sagt er. Es sei die dritte Demo dieser Art, an der er teilnimmt. „Tsipras macht dieses Land kaputt. Was er vorhat, führt ins totale Chaos.“
Was ist mit den Armen, den Kranken, den Rentnern? Er schüttelt den Kopf. „Gerade wegen ihnen müssen wir im Euro bleiben,“ sagt er. „Wir können nur in Europa überleben, nirgendwo sonst. Wenn wir uns nicht mit Brüssel einigen, geht dieses Land kaputt.“ Er arbeite im öffentlichen Dienst, er sagt das so, als unterstreiche das seine Überzeugung: Er, der vom Staat lebt, geht auf die Straße, damit dieser seine Ausgaben zügelt. Rechtspfleger sei er, bei einem Gericht in Athen. Er und seine Freunde mögen nicht nur Tsipras nicht, sondern auch sonst keine Parteien. Wie Synchronschwimmer schütteln sie den Kopf. Nein, keine Partei habe zu dieser Demo aufgerufen. „Alles selbstorganisiert. Über das Netz. Facebook und so“, sagt eine Frau.
Demonstrant
Eine große Freundin von Parteien ist auch Olga Lafazani nicht. Einen Tag nach der „Ja zum Ja“-Demo steht die Aktivistin des Diktio-Netzwerks vor einem alternativen Zentrum im Athener Anarcho-Stadtteil Exarhia. Wie die meisten hier trägt die junge Frau schwarz, ihre Locken hat sie zusammengebunden. Pausenlos ist sie in diesen Tagen auf Versammlungen, spricht vor Nachbarschaftskommitees, verteilt Flugblätter. „Komm‘ mit rauf,“, sagt sie jetzt. „Die Versammlung ist wichtig.“ Sie könne ins Englische übersetzen. Ernsthaft? „Es ist jetzt wie im Krieg. Da redet man sowieso nicht lange.“
Hilfe für die Regierung
Seit der letzten Nacht ist Griechenland Pleite, in den Straßen Exarhias ist davon nichts zu spüren. Am frühen Abend sind die Bars brechend voll, nur wenig Polizei ist in den Straßen rund um den als aufgezogen. Das Stadtteil gilt jeher als aufrührerisch. Seit Jahrzehnten versammeln sich die Diktio-Leute in dem Zentrum in der Tsamadou-Gasse, mit dem orangefarbenen Licht und den Stuckdecken, sitzen an den abgewetzten grünen Schultischen und überlegen, wie sie die Verhältnisse umstürzen können. Diktio ist eine der wichtigsten Sammlungsbewegungen der Linken, antiautoritär, in Griechenlands anarchistischer Bewegung gleichermaßen verwurzelt wie in marxistischen Kreisen. Kaum eine politische Auseinandersetzung, in die sie sich nicht eingemischt hätte. Doch was heute auf der Agenda steht, ist neu: Hilfe für die Regierung.
Etwa dreißig Menschen haben sich an den meterhohen „Oxi“-Flugblattstapeln vorbei die kleine Treppe hoch gedrängt. Offiziell mobilisieren sie für ein Nein. Doch unumstritten ist die Parteinahme für Syriza auf Seiten der Linken nicht: „Das ist der größte Klassenkonflikt seit 40 Jahren in Griechenland“, sagt der Versammlungsleiter. So sei die Lage: „Die Armen haben Angst vor neuen Sparrunden, die Mittel- und Oberschicht will kooperieren.“ Aber lässt man sich deshalb mit den Herrschenden ein?
Politische Graffiti in Griechenland
Nach der Bankenschließung ist die Zustimmung für Tsipras Kurs auf unter 50 Prozent gefallen. Auch manche Linke trauen Syriza nicht zu, eine Staatspleite zu händeln. Die Lage bereitet der Versammlung Kopfzerbrechen. Sie wisse auch nicht, was nach einem ‚Nein‘ passieren wird, sagt Lafazani nach einer Weile. Doch ein neues Memorandum sei keine Alternative. „Uns bleiben drei Tage. Wir müssen alles tun, um die Leute zu überzeugen. Auch die Elite setzt alles ein, was sie hat.“ Die Anwesenden nicken bedächtig.
Nein zu „Nai“ und „Oxi“
Im Gegensatz zu den Diktio-Leuten boykottiert die Kommunistische Partei das Referendum. „Tsipras redet schließlich immer noch mit der EU“, sagt einer am Tisch. „Er hat selbst gesagt, dass er ein ‚Nein‘ nur benutzen will, um danach weiter zu verhandeln“, sagt er. Soll man ihm dabei auch noch helfen? „Das Worst-Case-Szenario ist doch: Er kriegt sein ‚Nein‘, handelt kleine Zugeständnisse aus, und alles geht weiter wie bisher.“ Am Ende werden die Bedenken zurück gestellt. Auch die nächsten 72 Stunden wirbt Diktio weiterhin dafür, Tsipras‘ Aufruf zu folgen.
„Wir sind nicht seine Fans“, sagt ein junger Mann namens Nasim nach dem Ende der Versammlung. „Wir sind bei Syriza, wenn sie gutes tun und gegen sie, wenn sie schlechtes tun.“ Wie der Staat mit den Migranten umgehe, mit seinen Gefangenen, wie die Polizei sich aufführe, „das ist keine linke Politik.“ Das Referendum schon. Und wenn das Volk sich für die Opposition entscheidet, die jede Auflage der Troika annehmen will? „Ohne Risiko gibt es keine Veränderung“, sagt Nasim.
Ja zum „Oxi“
48 Stunden vor dem Referendum hat die Syriza-Ortsgruppe des Athener Stadtteils Dafni ein Tischchen auf dem Platz vor einer U-Bahn-Station aufgebaut. Fast 40 Prozent haben hier im Januar für Tsipras gestimmt. Die Bäume blühen fliederfarben, Despina Lagda hat ihre Accessoires farblich offenbar darauf abgestimmt. Die ganze Woche ist die Partei-Aktivistin schon hier, mit einem arbeitslosen Mathematiker und einer pensionierten Lufthansa-Angestellten drückt sie den Passanten Flugblätter in die Hand. Lagda hat Zeit. Aufträge habe sie durch die Rezession kaum noch, sagt die Buchhalterin. Mit ihrer 11-jährigen Tochter lebt sie von der Pension ihrer pflegebedürftigen Mutter. Fast alle hier sind in einer der vielen Sozialinitiativen engagiert, die aus dem Syriza-Umfeld entstanden sind.
Die meisten Passanten nehmen die „Oxi“-Flugblätter schweigend entgegen, von Zeit zu Zeit fängt einer an zu diskutieren. „Sie sind selber arm und wollen, dass wir noch mehr sparen“, sagt eine der Syriza-Frauen und tippt sich an die Stirn. Die Flugblatt-Verteilung sei „ein Kampf gegen die Propaganda“ der Rechten, sagt Lagda. Die kontrollierten die Medien. „Jetzt zeigen sie plötzlich die Schlangen mit den Rentnern vor den Bankautomaten. Aber die alten Leute, die die letzten fünf Jahre vor den Suppenküchen in der Schlange standen, die haben sie nie gezeigt“, sagt sie. Manche Chefs hätten ihren Angestellten gar den Lohn verweigert, sollten diese nicht bei der „Ja“-Demo erscheinen.
„Sie haben es alle darauf abgesehen, Tsipras zu stürzen.“ Wie zum Beweis zeigt einer ihrer Mitstreiter eine griechische Zeitung. Auf der ersten Seite ist ein Foto von EU-Parlamentspräsident Martin Schulz abgedruckt ist. „Hier“, sagt Lagda, und tippt auf den Artikel, in dem er sich für Neuwahlen in Griechenland ausspricht. “Er hat das erst gestern ganz offen gesagt“, empört sie sich.
Was sie will? „Eine Regierung, die für uns ist. Und die haben wir seit Januar.“ Am Nachmittag wollen sie einpacken und Tsipras‘ Rede auf dem Syntagma-Platz zu hören. „Es wird eine Versammlung der Freude am Leben“, sagt Lagda, den pathetischen Ton ihres Parteichefs hat sie sich offenbar abgeschaut. An einen Grexit glaubt hier keiner. Das ‚Nein‘ am Sonntag werde Griechenland „seine Würde zurückgeben“ und die Regierun stärken für neue Verhandlungen, sagt Lagda.
Und was, wenn es anders ausgeht? „Wir würden das demokratische Votum respektieren. Aber dazu wird es nicht kommen“, sagt sie. Und wenn doch? „Das wäre eine Katastrophe.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Exklusiv: RAF-Verdächtiger Garweg
Meldung aus dem Untergrund
Wirbel um KI von Apple
BBC kritisiert „Apple Intelligence“
Russische Männer auf TikTok
Bloß nicht zum Vorbild nehmen
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Filmförderungsgesetz beschlossen
Der Film ist gesichert, die Vielfalt nicht