Reden über den Nahen Osten: Hauptsache, alles so wie immer
Unsere Kolumnistin traut der deutschen Debatte über den Nahen Osten nicht. Sie hört interessiertes Schweigen und viel desinteressiertes Sprechen.
W ahrscheinlich kennen Sie dieses Gedankenspiel, es wird in sozialen Netzwerken gern geteilt und ist bestimmt älter als das Internet: Wenn deine Enkelkinder dich eines Tages fragen, was du gegen ____ getan hast, was wirst du ihnen antworten? In die Lücke lässt sich der Klimawandel setzen, der Umgang mit Geflüchteten an Europas Grenzen, die Unterdrückung der Uigur:innen in China. Oder, wie zuletzt: die Gewalt zwischen Israelis und Palästinenser:innen.
Mich trifft dieses Gedankenspiel, jedes Mal. Was werde ich meinen Enkelkindern sagen über den Krieg im Nahen Osten? Soll ich darüber sprechen und schreiben, muss ich? Kann ich?
Ich finde keine Worte und stoße überall auf Hemmungen, meine eigenen und die von anderen. Ich höre interessiertes Schweigen und sehr viel, was ich für desinteressiertes Reden halte. Ganz ehrlich, den meisten, die in den letzten Wochen über den Nahostkonflikt gesprochen haben, traue ich nicht.
Mein Misstrauen fängt bei der Frage an, ob sich die Sprechenden bewusst sind darüber, dass Israel und der Gazastreifen echte Orte sind mit echten Menschen, die echte Dinge erleben. Dass auch Palästinenser:innen mehr sind als schnell ansteigende Zahlen, obwohl wir ihre Geschichten viel zu selten erfahren. Dass es leicht ist, aus der Ferne radikale Lösungen zu fordern und sich selbst dabei gut aussehen zu lassen.
Ich traue ihnen nicht
Vor allem traue ich den Vielsprecher:innen in Deutschland nicht, weil Antisemitismus hier am liebsten dann zum Thema gemacht wird, wenn man ihn an Abschiebungen knüpfen kann. Schon erstaunlich, wie wenige Gedankensprünge es braucht, um von einem Krieg in 4.000 Kilometer Entfernung zur Frage zu gelangen, wen man hier rauswerfen könnte und wie. Noch leichter werden Palästinenser:innen zu ewigen Unruhestifter:innen, die ihren Kindern nichts als Hass predigen. Hauptsache, alles so wie immer.
Wie sehr interessieren sich diejenigen, die sich hierzulande schnell und laut positionieren, zum Beispiel dafür, dass die extreme Rechte in Israel immer stärker wird? Wie sehr für die politische Kritik linker Jüdinnen und Juden? Für die Rechte von Palästinenser:innen, wenn sie nicht von Israelis, sondern der Hamas beschnitten werden?
Ich bin keine Expertin, ich versuche zu lernen und habe das Gefühl, der deutsche Diskurs hilft mir nicht dabei. Wir prallen gegen unsere Projektionen. „Unsere“ – ich weiß gar nicht, ob es meine sind. Und das, was die wirklich Betroffenen schreiben, denken und fühlen, kommt hier kaum an.
Ich könnte meinen Enkelkindern antworten: Ich war damals, als die Gewalt zwischen Israelis und Palästinenser:innen wieder eskalierte, Journalistin bei einer Zeitung. Ich habe versucht, Menschen für diese Zeitung schreiben zu lassen, die etwas Neues beitragen können, die sonst vielleicht eher nicht gehört werden.
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Das habe ich wirklich. Ich schrieb befreundeten Autor:innen aus Israel und den palästinensischen Gebieten. Wie geht es dir? Willst du was schreiben? Eine antwortete, sobald sie in der Lage sei, würde sie sich melden. Sie hatte gerade ihre Cousine und deren Familie in Gaza-Stadt verloren. Ein anderer glaubt, was er zu sagen habe, würde eine deutsche Zeitung nicht drucken. Eine Dritte, sie lebt in Berlin, schrieb, sie habe schon lange aufgehört, sich öffentlich zu diesem Thema zu äußern, sie wolle ihre Karriere nicht gefährden.
Niemand ist uns seine Geschichte schuldig. Aber ich glaube, wir sind es den Menschen im Nahen Osten schuldig, genauer hinzuhören, wer zu diesem Thema spricht und wer nicht. Und woher dieses traurige Schweigen kommt.
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