Reden über Vergewaltigung: Über die Angst hinaus
Auf der Suche nach einer literarischen Sprache für sexuelle Übergriffe: Laura Leupis Debütroman „Das Alphabet der sexualisierten Gewalt“.
Ein Lexikon der Vergewaltigungen, das kein Lexikon ist. Laura Leupi gießt die Erzählung einer Gewalterfahrung und die Ergebnisse einer ausgiebigen Recherche zusammen in ein ungewöhnliches Buch, das eine Mischung aus autofiktionalem Essay und feministischem Debattenbeitrag ist. Gleichzeitig wägt es die Möglichkeiten der Literatur und des Schreibens über sexualisierte Gewalt ab.
Leupi hat eine Reihe von Begriffen, die in diesem Zusammenhang für gewöhnlich genannt werden, gesammelt und alphabetisch aufgelistet. Von A wie Angst, die „uns zurück an den Herd“ verweist, bis Z wie Zuhause, „wo die meisten sexuellen Übergriffe geschehen“. Es scheint, als müssten diese Schlagwörter einmal genannt werden, bevor tatsächlich ein Gespräch über sexualisierte Gewalt beginnen kann.
Das Alphabet zieht sich als Gerüst durch das gesamte Buch und bildet den Rahmen für die Erzählung einer Vergewaltigung, die die Erzähler*in durch den Partner im eigenen Zuhause erlebt hat. Von schimmelnden Wänden wird erzählt, von einem vorwurfsvoll starrenden Fußboden und einem beißenden Bett. Das Zimmer erwacht zum Leben und erscheint als Ort der Gefahr, etwa wenn die Laken „wie große Bettwellen“ über das Ich hereinbrechen.
Man kann sich fragen, ob die spielerische Form des Alphabets dem Thema angemessen ist. Aber schnell wird deutlich, dass es als Versuch zu verstehen ist, Ordnung in einen komplexen Stoff zu bringen. Dadurch, dass es die Erzählung der Vergewaltigung immer wieder unterbricht, bewirkt es eine kurze Auszeit im Text.
Persönliches Alphabet der Gewalt
Nicht bei jedem Wort ist der Zusammenhang gleich ersichtlich (was hat etwa Brennnesseltee mit Vergewaltigungen zu tun?), das muss er aber auch gar nicht: Die Erzähler*in betont, dass es sich um ihr persönliches Alphabet handelt, das für jeden anders aussehen kann. Die Lesenden werden immer wieder direkt angesprochen und damit zu einer Reaktion aufgefordert: „Wie stellen Sie sich mich vor, jetzt, da Sie wissen, dass ich vergewaltigt wurde?“
Das Buch ist auch eine bemerkenswerte Sammlung von Rechercheergebnissen. Besonders eindrücklich sind die fünf Seiten, die mit einer Liste der Femizide und versuchten Femizide gefüllt sind, die in der Schweiz seit Beginn der Arbeit am Text stattgefunden haben.
Ein Problem in gängigen Wahrnehmungen und Darstellungen von Vergewaltigungen sieht Leupi in einem „rape script“, das eine stereotype Modellvorstellung für Vergewaltigungen vorsieht: Eine cis weibliche Person wird mit Gewaltanwendung durch eine cis männliche Person vaginal penetriert. Diese Vorstellung lässt nur eine mögliche Geschichte zu: Frauen als „ewiges Opfer“, Männer „für immer Täter“.
Das macht Betroffene sexualisierter Gewalt unsichtbar, die sich nicht als cis Frauen identifizieren, und sortiert sie in Schubladen ein, denen sie sich nicht zugehörig fühlen: „Trotzdem weiß ich immer noch nicht, wie ich diese Geschichte erzählen kann, ohne FRAU zu werden – was ich nicht bin – ohne OPFER zu sein – was ich nicht sein will.“
Vergewaltiger sind immer die anderen
Leupi kritisiert, dass in den Medien nur über die aufsehenerregendsten Fälle berichtet wird, wie die Vergewaltigung einer jungen Frau durch eine Gruppe von Männern in Südafrika. Ein schockierender Fall, von dem man sich distanzieren kann: Vergewaltiger sind immer die Anderen. Dem, was am häufigsten vorkommt, wird nicht annähernd so viel Platz in der Berichterstattung eingeräumt, nämlich der Gewalt in Beziehungen und im nahen Umfeld.
Daher erscheint es Leupi zwingend, darüber zu schreiben. „Die Angst verweist uns zurück an den Herd und den MANN ans Gewehr.“ Es sind Sätze wie dieser, in denen Leupi wirkungsmächtig die Folgen des vorherrschenden Vergewaltigungsdiskurses beschreibt. Sie sind aber auch möglicherweise die Stellen, die Lesende wie den Literaturkritiker Philipp Tingler provozieren: In der Jurydiskussion beim Bachmannpreis, wo Leupi 2023 eine gekürzte Version des Textes vortrug und mit dem 3sat-Preis ausgezeichnet wurde, warf er der Autor*in eine „tendenziell totalitäre“ Sprache vor.
Dabei macht Leupi keineswegs einen essenzialistischen Gegensatz von Männern und Frauen als Antipoden auf, sondern kritisiert das patriarchale System, das diese Kategorien erst hervorbringt und ihnen bestimmte Eigenschaften zuschreibt: „Männliche Sexualität ist in einer sexistischen Gesellschaft nicht ‚freier‘ als weibliche; die Hetero-Gewaltwelt übt auch auf cis Männer Zwänge aus.“
Kritik am Strafsystem
Ebenso wird das Strafsystem an sich kritisiert: Laura Leupi fordert keine juristische Verurteilung von Tätern. Insbesondere das Gefängnis wird nicht als Lösung dargestellt, sondern als der Ort, der Gewalt erst hervorbringt. So erzählt Leupi die Geschichte des Aktivisten Stephen Donaldson, der als Erster in den USA öffentlich über Vergewaltigungen von Männern sprach, nachdem er selbst mehrfach im Gefängnis vergewaltigt worden war.
Laura Leupi: „Das Alphabet der sexualisierten Gewalt“. März Verlag, Berlin 2024, 144 Seiten, 20 Euro
Das Buch macht die bisherigen Schwachstellen des öffentlichen Gesprächs über sexualisierte Gewalt sichtbar und tastet sich an eine geeignetere Form dafür heran. Die autofiktionale Erzählung, die die Lesenden die Gewalterfahrung miterleben und mitfühlen lässt, ist weder vollständig noch linear, wie es typisch für Erzählungen traumatischer Erfahrungen ist.
Die lexikalische Darstellung des Alphabets, das nie ganz abgeschlossen werden kann, bricht die Geschichte auf und regt zum Weiterdenken an.
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