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Redaktionsbesuch in MoskauWas andere nicht zu denken wagen

Die „Nowaja Gaseta“ hat gerade Grund zur Freude – und zur Trauer. Einen Nobelpreis gilt es zu feiern, einer ermordeten Kollegin zu gedenken.

Der Schreibtisch von Anna Politkowskaja in der „Nowaja Gaseta“ Foto: Anastasia Tikhomirova

Dmitri Muratow ist zusammen mit der philippinischen Journalistin Maria Ressa Träger des diesjährigen Friedensnobelpreises. Verliehen wurde er dem russischen Journalisten für seine unermüdlichen Bemühungen, die Meinungsfreiheit in seinem Land zu schützen und kritische Berichterstattung unter schwierigen Bedingungen fortzusetzen. Muratow ist seit 1995 Chefredakteur der kremlkritischen Zeitung Nowaja Gaseta, zu deren Mitgründern im Jahr 1993 er gehörte. Die Nowaja Gaseta ist für ihre Investigativ-Recherchen über Korruption, Missbrauch von Staatsgewalt und über Lebensrealitäten von Minderheiten bekannt. Sie gilt als die letzte unabhängige Zeitung in Russland.

In der Redaktion ist die Freude über die Nachricht groß: „Unverdient ist der Preis ja nicht“, bemerkt ein Redakteur. „Schon wieder ein Grund zum Anstoßen“, scherzt ein anderer Kollege, während der täglich stattfindenden Redaktionssitzung „Planjorka“. Im Gegensatz zum letzten Mal ist der neue Trinkanlass allerdings erfreulich. Nur einen Tag vor der Verleihung des Nobelpreises nämlich trauerte die Redaktion wegen der nun 15 Jahre zurückliegenden Ermordung ihrer Journalistin Anna Politkowskaja, die unerschrocken über den Krieg und Menschenrechtsverletzungen im Nordkaukasus, den Anschlag von Beslan 2004 sowie das Regime von Ramsan Kadyrow berichtet hatte. Am 7. Oktober 2006 wurde die damals 48-Jährige im Aufzug ihres Wohnhauses von einem Auftragsmörder erschossen.

Fotos von Politkowskaja hängen als Banner in den Fenstern des Gebäudes, in dem sich die Räumlichkeiten der Nowaja Gaseta befinden. In der Redaktion steht ihr Schreibtisch noch fast so da wie vor 15 Jahren, darauf ihre Brille, ihr Rucksack und Computer – als würde sie gleich wiederkommen.

An ihrem Todestag wurde ihrer mit einer Ausstellung gedacht, es kamen ein Film und ein Buch heraus, in dem die Recherchen der Redaktion zu ihrer Ermordung veröffentlicht wurden. Nach 15 Jahren verjährt nach russischem Gesetz der noch immer nicht vollständig aufgeklärte Mord an der Journalistin. Zwar wurde, auf Druck der Anwälte der Nowaja Gaseta und von Politkowskajas Kindern, der Mörder gefunden und acht Jahre nach der Tat verurteilt, jedoch liegt der Name des Auftraggebers noch immer im Dunkeln.

In der Redaktion sind sie davon überzeugt, dass Regierung und Ermittler den Namen des Auftraggebers kennen und ihn vor der Öffentlichkeit geheim halten. Russland hat den Auftragsmord nur unzureichend untersucht und den Zusammenhang zu Politkowskajas Arbeit unterschlagen. Es scheint klar, dass der Name des Auftraggebers nicht genannt werden wird, solange die aktuelle Regierung bestehen bleibt.

37 Medienschaffende ermordet

Dmitri Muratow nahm den Nobelpreis mit den Worten entgegen, dass es ein Preis für Anna Politkowskaja und für all seine geliebten, ermordeten Kollegen und Freunde sei. Allein sechs Jour­na­lis­t:in­nen der Novaja Gaseta mussten in den 2000er Jahren ihr Leben lassen, insgesamt wurden seit Putins Amtsantritt 37 Medienschaffende in Russland ermordet.

Wer die Redaktion der Nowaja Gaseta betreten möchte, muss am Eingang einen Metallscanner und drei Wachen passieren. Die strengen Kontrollen erklären sich aus der Geschichte der Zeitung, die von staatlicher Repression, Gewalt, Mord und Giftanschlägen auf die Jour­na­lis­t:in­nen geprägt ist –Taten, die fast immer straflos blieben. Erst vergangenen März versprühte eine als Essenkurier verkleidete Person giftige Chemikalien am Eingang des Gebäudes, glücklicherweise ohne ernsthafte gesundheitliche Folgen für die Mitarbeitenden.

Russland ist auf Platz 150 von 180 Ländern, die im Pressefreiheitsindex der NGO Reporter ohne Grenzen gelistet werden. Journalistische Arbeit war hier nie einfach. Heute jedoch hat die Repression zugenommen. Der Druck auf die Pressefreiheit manifestiert sich in neuen und ständig wechselnden Verordnungen. „Wir haben Prinzipien, nach denen wir berichten, im Vordergrund stehen immer Menschenrechte, Objektivität und Fakten. Dabei halten wir uns jedoch stets eisern an die Gesetze, die uns auferlegt werden“, sagt die Redakteurin Daria Kudrina.

Dazu gehört das Gesetz zum Status „Ausländischer Agent“, den bisher kaum jemand wieder losgeworden ist. Er kann NGOs, Medien oder auch Einzelpersonen angehängt werden, wodurch sie als von ausländischen Mächten finanzierte Handlanger gebrandmarkt werden. Auf diese Weise stigmatisiert die Regierung kritische Berichterstattung und erschwert das Arbeiten von Redaktionen und anderen unabhängigen Organisationen. Sie können sich dann weder durch Werbung noch durch Unterstützung aus dem Ausland finanzieren, es gibt Strafen für die Anwesenheit von Reportern, die zu als ausländische Agenten gelisteten Medien gehören, man unterstellt den Medien die Verbreitung von Falschnachrichten, kontrolliert und drangsaliert sie ständig.

Putin warnt Muratow

Eine entsprechende Drohung hat Präsident Putin am vergangenen Mittwoch formuliert: Muratow solle den Nobelpreis nicht als „Schutzschild“ verstehen. Er erhalte durch die Auszeichnung keinen besonderen Status, der es verhindere, dass er als „ausländischer Agent“ eingestuft werde. Putin warnte Muratow davor, den Nobelpreis dazu zu nutzen, um „die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen“.

„Unabhängiger Journalismus ist eigentlich unmöglich unter derartigen Bedingungen. Die Tatsache, dass diese Zeitung ihn noch praktiziert, hängt wahrscheinlich damit zusammen, dass sie seit beinahe 30 Jahren existiert und bereits vor dem Erstarken des russischen Autoritarismus ein festes Standbein auf dem hiesigen Medienmarkt erlangt hatte. Außerdem hat diese Redaktion keinen Eigentümer, sie gehört nur sich selbst und lebt unter anderem von Investoren wie dem Unternehmer Sergei Adoniew, der jedoch keinen Einfluss auf die Redaktionspolitik ausübt“, sagt der stellvertretende Chefredakteur Kyrill Martynow.

Ob die Redaktion nun zu ausländischen Agenten erklärt werde, sei ungewiss, eindeutig sei jedoch, dass die Gesetze, die dies ermöglichten, zurückgenommen werden müssten. Dmitri Muratow widmete den Nobelpreis jedenfalls auch all denjenigen Menschen, die von der russischen Regierung zu Agenten oder Extremisten erklärt wurden. Mit dem Preisgeld wolle er auch den Ausbau der Pressefreiheit in Russland unterstützen.

Die Redaktion der Nowaja Gaseta ist eine Bastion. Sie besteht aus passionierten, risikobereiten, auch idealistischen Journalist:innen, die für ihre Arbeit brennen und dabei unter unheimlich hohem psychischem Druck stehen. Hier geht es nicht um Geld oder Ruhm – reich wird man als Jour­na­lis­t:in in Russland sowieso nicht –, sondern um Arbeit aus Überzeugung. „Natürlich haben wir Angst, wir sind Menschen, die fühlen und Empathie empfinden. Aber das hält uns, ungeachtet aller Drohungen, nicht davon ab weiterzumachen. Wer, wenn nicht wir?“, so Kudrina.

Die Stimmung ist familiär, die Hierarchien flach. Viele sind befreundet. Sie stehen den Angriffen als Kollektiv entgegen und stärken sich gegenseitig den Rücken, während Ungewissheit darüber herrscht, wann und wie der nächste Schlag erfolgen könnte. Wenn die Gefahr besteht, dass Redaktionsmitgliedern nach Publikation eines Artikels etwas zustoßen könnte, wird über seine Veröffentlichung nach dem Prinzip entschieden, ob der Inhalt von großem öffentlichem Interesse ist und gesellschaftliche Sprengkraft hat. „Wir wägen das Für und Wider ab und drucken dann, wenn der Inhalt zu brisant ist, um ihn der Öffentlichkeit vorzuenthalten, ungeachtet aller Konsequenzen“, so Martynow.

Nach wie vor gilt das, was einst Antonio Gramsci in seinen Gefängnisheften formulierte: „Die Wahrheit zu sagen ist revolutionär.“ Wer dies in Russland tut, lebt gefährlich. Nowaja Gaseta tut das trotz alledem unter folgendem Slogan: „Wir erzählen das, was andere nicht einmal zu denken wagen.“

Anastasia Tikhomirova ist derzeit Gastredakteurin bei der Nowaja Gaseta im Rahmen eines IJP-Stipendiums.

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