Rechtswissenschaftler zum Wahlurteil: „Urteil von seltener Deutlichkeit“
Die Wiederholung der Abgeordnetenhauswahl ist verhältnismäßig, findet Rechtsexperte Christian Waldhoff. Er sieht „systemisches Organisationsversagen“.
taz: Herr Waldhoff, das Landesverfassungsgericht hat am Mitwoch eine komplette Wiederholung der Abgeordnetenhauswahl von 2021 für notwendig erklärt. Finden Sie das nachvollziehbar?
Christian Waldhoff: Ja. Das ist eine mutige Entscheidung. Aber ich würde mich da der Argumentation des Verfassungsgerichts anschließen: Die Kumulation der Wahlfehler ist so evident und mandatsrelevant, dass die Waagschale zugunsten der Neuwahlen richtig gesenkt wurde.
Das Urteil fiel unter den Richter*innen nicht einstimmig. Es gab auch eine Gegenstimme und ein Sondervotum, das sagt: die Komplettwiederholung sei unverhältnismäßig.
Die Mandatsrelevanz kann nie präzise bewiesen werden. Sie werden nie genau sagen können, wie viele Wählerinnen und Wähler durch überlange Schlangen vor den Wahllokalen abgeschreckt wurden. Insofern gibt es da einen Wertungsspielraum für das Gericht und den haben die Richterinnen und Richter ausgenutzt.
Christian Waldhoff
ist Professor für Öffentliches Recht an der Humboldt-Universität. Er war Teil der Expertenkommission des Senats, die den Wahltag 2021 aufarbeiten sollte.
Gerade weil es einen Wertungsspielraum gibt und man nicht alles genau aufklären kann: Wäre da ein weniger schwerer Eingriff als eine Wahlwiederholung nicht verhältnismäßig gewesen?
Das Urteil ist ja von einer Deutlichkeit, wie man es selten findet. Die Begründung des Mehrheitsvotums finde ich überzeugend: Es wurde ein systemisches Organisationsversagen all derer festgestellt, die diese Wahl vorbereitet haben. Das hat die demokratische Integrität der Wahlen so beschädigt, dass man in der Abwägung gesagt hat: Es muss neu gewählt werden.
Christian Waldhoff, Professor für Öffentliches Recht an der HU
Dennoch: 1,8 Millionen abgegebene Stimmen, lediglich 20.000 wurden nach Schätzungen der Richter*innen in ihrer Stimmabgabe behindert. Das erscheint nicht sehr viel.
Der Punkt ist, das meine ich mit systemischem Versagen: Die Wahlvorbereitung ist völlig schief gelaufen. Hätte man realistisch berechnet, wie viele Kabinen zur Verfügung stehen in welchem Zeitraum, dann hätte man sehen können, dass teilweise maximal 40 Prozent der Stimmberechtigten ihre Stimme hätten abgeben können. Das kann natürlich nicht richtig und zulässig sein.
Wer kann jetzt vors Bundesverfassungsgericht nach Karlsruhe gehen, um die Entscheidung der Berliner Verfassungsrichter*innen anzugreifen?
Alle Abgeordneten mit der Begründung, dass sie um ihre Wiederwahl fürchten müssen. Und auch die Mitglieder der Bezirksverordnetenversammlungen. Denn sie wurden ja für fünf Jahre gewählt und sie können sich gegen das potenziell vorzeitige Ende ihres Mandats wehren. Die Frage ist: Was kann in Karlsruhe überprüft werden? Das Verfassungsrecht sagt: Wenn ein Landesverfassungsgericht abweichen möchte von der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts oder eines Landesverfassungsgerichts, dann muss vorab das Urteil des Bundesverfassungsgerichts eingeholt werden. Aber das Berliner Urteil verhält sich auch zu dieser Frage: Es kann nicht abgewichen werden, weil man Neuland betrat. Ein solcher Sachverhalt hat in der Bundesrepublik seit 1949 nicht vorgelegen.
Mit anderen Worten: Die Wahrscheinlichkeit, dass die Klage in Karlsruhe zugelassen würde, ist nicht gerade sehr hoch?
Ich schätze die Erfolgsaussichten als sehr gering ein.
Hätte ein Eilentscheid in Karlsruhe, der eine Klage zulassen würde, aufschiebende Wirkung für den Wahltermin am 12. Februar?
Die betroffene Person müsste eine Verfassungsbeschwerde wegen Grundrechtsverletzung stellen. Das hat als solches keine aufschiebende Wirkung. Man könnte aber versuchen, eine einstweilige Anordnung zu erreichen. Die Erfolgsaussichten sind nicht sehr groß.
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