Rechtsruck in den Niederlanden: „Wilders drückt der Regierung spürbar seinen Stempel auf“
Die Politikwissenschaftlerin Léonie de Jonge über die Asylpolitik der niederländischen Regierung und den Einfluss des Rechtspopulisten Geert Wilders.
taz: Die neue radikal rechte Regierung der Niederlande hat angekündigt, das „strengste Asylregime aller Zeiten“ einzuführen. Was meint sie damit?
De Jonge: Geplant ist unter anderem, die Gültigkeit einer Asylerlaubnis von fünf auf drei Jahre zu verkürzen und die unbefristete Aufenthaltsgenehmigung für Asylbewerber ganz abzuschaffen. Auch die Möglichkeit zur Familienzusammenführung soll eingeschränkt werden. Zudem plant die Regierung, Teile Syriens zu sicheren Gebieten zu erklären, um so die Rückführung von Flüchtlingen dorthin zu ermöglichen. Es sind auch verschärfte Grenzkontrollen vorgesehen, um illegal eingereiste Migrantinnen und Migranten, darunter Asylsuchende, die bereits anderswo in Europa Asyl beantragt haben, an den Landesgrenzen abzufangen und umgehend nach Deutschland oder Belgien abzuschieben. Damit liegen die Niederlande derzeit ‚im Trend‘ – auch Deutschland und Frankreich haben ja solche Kontrollen eingeführt.
taz: Die Regierung wollte eigentlich wegen der angeblichen „Asylkrise“ den Notstand ausrufen, sieht nun aber davon ab.
De Jonge: Ja, eine der Regierungsparteien, die NSC, hatte große Bedenken hinsichtlich der Rechtsstaatlichkeit eines solchen Notstands. Denn damit könnte die Regierung Maßnahmen ohne parlamentarische Zustimmung anordnen. Zwar verzichtet sie nun auf das Notstandsgesetz und wird den parlamentarischen Weg beschreiten müssen. Dafür plant die Regierung, die bislang härteste Asylpolitik durchzusetzen.
taz: Es scheint, als gäbe der Rechtspopulist Geert Wilders die Richtung an – obwohl er gar nicht Regierungschef ist.
De Jonge: Ja, er trägt keine Regierungsverantwortung, aber drückt der Regierung spürbar seinen Stempel auf. Wilders kann sich als Außenseiter gerieren, aber zugleich mitbestimmen. Einfluss bekommt er über die Minister, die seine Partei stellt. In Wilders’ Partei PVV ist er das einzige Mitglied. Deshalb kann er sich seine Minister allein aussuchen. Er rekrutiert sie aus einer Gruppe von Loyalisten, die ihm treu ergeben sind.
taz: Die PVV hat 37 von 150 Sitzen im Parlament. Wieso kooperieren die anderen Parteien nicht, um Wilders von der Macht fernzuhalten?
De Jonge: Das ist die Eine-Million-Euro-Frage. Hier zeigen Leute immer wieder auf die AfD und sagen: „Das ist eine rechtsextreme Partei!“ Bei Wilders ist das anders. Er sitzt schon seit über 20 Jahren im Parlament, jeder kennt ihn. Deshalb ist er schon normalisiert und wird nicht als rechtsextrem gesehen.
taz: Teilen Sie diese Einschätzung?
De Jonge: Nein. Zwar gibt es organisatorisch bedeutende Unterschiede – die PVV hat keine Parteimitglieder und keine Kontakte zum rechtsextremen Milieu -, aber inhaltlich ähneln die Parteien sich stark. Legt man die Parteiprogramme von AfD und PVV nebeneinander, steht fast das Gleiche drin. Wilders hat sich zwar immer ganz deutlich von Gewalt distanziert, vertritt aber eindeutig antidemokratische Inhalte. Dass er den Koran verbieten und alle Moscheen schließen lassen will, steht im Widerspruch zur niederländischen Verfassung.
taz: Trotzdem wurde die PVV bei der letzten Wahl erstmals stärkste Kraft. 2021 bekam Wilders rund 10 Prozent der Stimmen, 2023 waren es plötzlich 23,5 Prozent. Was ist da passiert?
De Jonge: Zählt man alle Stimmen für die radikal rechten Parteien zusammen, kamen sie schon vorher in Richtung der 20 Prozent. Bei der letzten Wahl gelang es Wilders, die allermeisten Stimmen des radikal rechten Wählerblocks zu gewinnen. Die liberalkonservative VVD, die mit Mark Rutte den letzten Ministerpräsidenten gestellt hat, trug ihren Teil dazu bei.
taz: Inwiefern?
De Jonge: Sie hat vor der letzten Wahl erstmals bekundet, dass sie über eine Koalition mit Wilders’ PVV nachdenkt. Der Wählerschaft wurde so signalisiert, dass die PVV eigentlich regierungstauglich ist. Die meisten neuen Wähler hat sie dann auch tatsächlich von der VVD hinzugewonnen.
taz: Woher kommt der Erfolg der Rechtsaußen-Parteien?
De Jonge: Schaut man sich den Wählermarkt an, hat nicht plötzlich ein Viertel der Niederländer rechtsextreme Haltungen. Die Positionen zu Migration in der Gesellschaft haben sich in den letzten 20 Jahren kaum verändert. Unterschiede sieht man dagegen auf der Angebotsseite. Das Thema Migration wird von radikal rechten Parteien politisiert und mit anderen Themen wie der Wohnungskrise verknüpft. Um Wähler zurückzugewinnen, sprechen auch Mitte-Rechts-Parteien darüber. Die Linken schaffen es wiederum nicht, ihre Themen zu setzen. So wird Migration zum bedeutendsten Wahlkampf-Thema, und damit punktet Wilders.
Léonie de jonge, Politikwissenschaftlerin
taz: Sie haben gesagt, Wilders ist sehr normalisiert. Wie hat er das geschafft?
De Jonge: Er ist ein cleverer Politiker, der sich wie kein anderer auf Stimmungen einstellen kann. Ihm ist es sehr erfolgreich gelungen, eine mildere Version von sich selbst zu präsentieren. Dabei haben ihm insbesondere die anderen Parteien und die Medien geholfen. Sie nannten ihn auf einmal „Geert Milders“, weil er sich von seinen Islam-Standpunkten distanziert hat – obwohl diese Distanzierung nicht glaubwürdig ist. Kurz vor den Wahlen gab es etwa eine umstrittene Jugendnachrichten-Sendung, in der Wilders in einem Tierheim mit kleinen Kätzchen spielt. Nicht umsonst hat er auch einen Twitter-Account für seine Katzen.
taz: Wie sollten Journalisten mit Rechtspopulisten reden?
De Jonge: Ich habe keine Anleitung, kann aber erklären, was sie in den Niederlanden falsch gemacht haben. Vor 2000 gab es eine klare Ausgrenzung radikal rechter Parteien. Nach dem Attentat auf Pim Fortuyn 2002 haben die Medien dann versucht, den „Angry Dutch Man“ zu Wort kommen zu lassen. Seitdem ist es gängig, dass wirklich alle Parteien und Strömungen gehört werden müssen, egal wie radikal sie sind. Die meisten Medien hierzulande finden, dass es am Wähler und der Wählerin ist, sich selbst ein Bild zu machen. Deshalb werden medial keine Grenzen gesetzt.
taz: In Deutschland haben sich viele nach dem Wahlsieg von Wilders die Augen gerieben. Hier sieht man die Niederlande immer noch als ein sehr tolerantes und liberales Land. War das schon immer ein Mythos?
Das war immer ein Klischee, aber die Niederländer haben es selbst gerne bedient. Dieses Bild der Toleranz ist eher ein Nationalmythos, der noch aus der Seefahrergeschichte kommt. Ich kenne jedenfalls keine Daten, die nahelegen, dass die Leute hier wirklich weltoffener oder toleranter sind.
taz: Haben sie Angst, Ihr Land unter der neuen Regierung bald nicht mehr wiederzuerkennen?
De Jonge: Ich mache mir große Sorgen. Wir wissen nicht, wo das hinführen wird. Die Normalisierung rechtsradikalen Gedankenguts geht noch schneller voran als bisher. Mittlerweile ist etwa die Verschwörungstheorie vom „Großen Austausch“ gang und gäbe im Parlament. Viele Leute haben das Gefühl, sie könnten endlich mal alles sagen, was sie wollen. Sie verbreiten dann ungefiltert rechtsextreme Ideen – die schon gar nicht mehr als rechtsextrem angesehen werden!
Léonie de Jonge ist Expertin für rechte Bewegungen in Westeuropa und Assistenzprofessorin für Europäische Politik und Gesellschaft an der Universität Groningen. Ab Januar 2025 übernimmt sie die neu eingerichtete Professur für Rechtsextremismusforschung an der Universität Tübingen.
taz: Wie sollen die Niederlande da wieder rauskommen?
De Jonge: Das wird ein wirklich langer und harter Weg. Mit der liberalen Demokratie ist es wie mit einem Garten: Man muss sie gießen, damit sie nicht eingeht. Es ist die Aufgabe der Oppositionsparteien und der Zivilgesellschaft, als Hüter der liberalen Demokratie einzutreten. Die Medien wiederum sollten Haltung zeigen, bevor sie sich noch selbst abschaffen. Und man muss immer betonen: Stimmen 25 Prozent der Niederländer für Rechtsaußen-Parteien, tun es 75 Prozent nicht. Die Rechtspopulisten sind nicht in der Mehrheit.
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