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Rechtsruck in GroßbritannienEine illiberale Demokratie

Gastkommentar von Peter Stäuber

Wer Boris Johnson für einen Politclown hielt, hat sich getäuscht. Er verändert Großbritannien in eine autoritäre Richtung.

Hinter der clownhaften Fassade von Boris Johnson verbirgt sich ein beinharter Politiker Foto: Vickie Flores/imago

B oris Johnson ist ein unterhaltsamer Politiker. Wortgewandt und leichtfüßig versteht der britische Premierminister, trockene politische Angelegenheiten mit Witz und erfinderischer Rhetorik zu garnieren und schlagzeilentauglich zu machen.

Es war nicht zuletzt seine mangelnde Seriosität, die viele Poli­tik­experten dazu verleitete, seine Wirkung auf die Wähler zu unterschätzen. Der Brexit führte nicht, wie oft prognostiziert, zur Spaltung der Tory-Partei – im Gegenteil, er hat es Johnson ermöglicht, die konservative Vorherrschaft zu zementieren.

Aber hinter der clownhaften Fassade des Premierministers verbirgt sich ein beinharter Politiker. Johnson verfolgt zunehmend einen Autoritarismus, der grundlegende Bürgerfreiheiten bedroht. In Brexit-Britannien lassen sich in Umrissen die Merkmale eines autokratischen Regimes erkennen – Angriffe auf die Meinungs- und Versammlungsfreiheit, eklatante Korruption, kaltherzige Politik gegen Migranten. Das ist brandgefährlich. Aber die Opposition schläft – der Widerstand muss von der Straße kommen.

Eine der führenden Vertreterinnen der autoritären Politik ist die Innenministerin Priti Patel, deren reaktionäre Haltung haarsträubend ist – bis vor einigen Jahren war sie eine Vertreterin der Todesstrafe. Die Hardlinerin schimpft über die „Gutmenschen“ und „linke Anwälte“, die vom angeblich kaputten Asylsystem profitieren.

Schulen sollen antikapitalistisches Material im Unterricht vermeiden. Es sei demokratiefeindlich

Laut einer neuen Vorlage sollen Flüchtlinge, die auf „illegalem“ Weg nach Großbritannien kommen, kein Anrecht auf Schutz mehr haben. Wer es zum Beispiel in einem Gummiboot über den Ärmelkanal schafft, soll abgeschoben werden. Menschen aus Kriegs- und Krisengebieten, die ihr Leben riskieren, um in Großbritannien eine neue Existenz aufzubauen, sollen hier nicht willkommen sein. So viel Kaltherzigkeit muss man erst einmal haben.

Ein migrationsfeindliches Klima

Noch ist das Gesetz erst ein Vorschlag, aber die aggressive Rhetorik hat bereits jetzt Konsequenzen. EU-Migranten berichten von Problemen an der Grenze. Eine Bulgarin wurde von einem Zollbeamten am Flughafen gewarnt, bitte nicht zu lange im Land zu bleiben – obwohl sie seit über zehn Jahren in London wohnt und mit einem Engländer verheiratet ist, das Bleiberecht aber nicht erhalten hat. Das ist eine Folge der migrationsfeindlichen Linie, die von oben vorgegeben wird: Die Behörden werden dazu ermuntert, Rassismus und Xenophobie zu signalisieren.

Neben Flüchtlingen zählen auch Protestierende zu den Lieblingsfeinden der Innenministerin. Sie bezeichnet die Ak­ti­vis­t*in­nen von Extinction Rebellion als „Kriminelle“. Dass die Polizei nicht genügend Instrumente in der Hand hält, um gegen die irritierend friedlichen Proteste der Klimabewegung vorzugehen, sorgt in Westminster für tiefe Frustration.

Also muss ein weiteres Gesetz her: Die neue „Polizeivorlage“ soll dem Staat die nötigen Befugnisse geben, um Proteste jeder Art zu unterbinden. So kann die Polizei beispielsweise genaue Anfangs- und Endzeiten von Demos vorschreiben, und sie kann Protest verbieten, wenn er zu laut ist. Solche Vorschläge haben schlichtweg keinen Platz in einer Demokratie.

Auch auf dem ideologischen Schlachtfeld rüstet die Regierung auf. Alles, was irgendwie progressiv oder „woke“ erscheint, gilt als gefährlich. „Wir wollen nicht, dass unsere Lehrer ihren weißen Schülern Unterricht zu White Privilege geben“, sagte die Ministerin für Gleichstellung, Kemi Badenoch.

Institutioneller Rassismus in Großbritannien existiert laut der Regierung nicht, obwohl er durch unzählige Studien belegt und offenkundig ist. Auch sind Schulen aufgefordert worden, „antikapitalistisches Material“ im Unterricht zu vermeiden. Es handle sich dabei um eine „extreme politische Haltung“, vergleichbar mit – kein Witz – der Ablehnung von Redefreiheit.

Antikapitalismus gleich antidemokratisch

Und dann ist da die Korruption. Bereits in mehreren Fällen haben Gerichte entschieden, dass die Regierung bei der Vergabe von öffentlichen Aufträgen während der Pandemie gesetzeswidrig gehandelt hat. Etliche Aufträge sind an persönliche Bekannte von Regierungsmitgliedern gegangen, obwohl sie keinerlei Erfahrung haben.

In jedem einigermaßen funktionierenden Rechtsstaat hätte dies Konsequenzen. Zumindest würde man dem Minister nahelegen, zurückzutreten. Nicht so in Brexit-Britannien – hier zuckt die Regierung mit den Schultern und macht weiter.

Eine wirksame Opposition würde reichlich Material finden, um aus der Regierung Hackfleisch zu machen – oder sich zumindest als progressive Alternative zu diesem autoritären Rechtskonservatismus zu positionieren. Aber unter der Führung des überaus blassen Keir Starmer hat Labour die Opposition praktisch aufgegeben. Viel zu schüchtern tritt die Parteiführung auf, stets in der Angst, sozialkonservative Wähler zu verschrecken.

Letzte Hoffnung – die Straße

Hoffnung macht hingegen der Widerstand auf der Straße. Tausende Bür­ge­r*in­nen sind durch London und andere Städte gezogen, um gegen das Polizeigesetz zu protestieren. Als der Mord an der jungen Londonderin Sarah Everard im März das ganze Land erschütterte, formierte sich eine breite gesellschaftliche Bewegung, die mehr Sicherheit für Frauen im öffentlichen Raum fordert.

Die Black-Lives-Matter-Bewegung hat im vergangenen Sommer riesige Demonstrationen organisiert. Und schließlich mehrt sich der Widerstand gegen die reaktionäre Einwanderungspolitik. In Schottland wächst seit Monaten die Kritik an den Razzien der Migrationsbehörden – und die Bür­ge­r*in­nen werden aktiv. Im Mai blockierten über Tausend Menschen einen Lastwagen der Migrationsbehörden, der zwei indische Migranten mitnehmen sollte. Den Behörden blieb nichts übrig, als die Migranten wieder freizulassen.

Solche Solidarität macht Mut. Sie zeigt, dass viele nicht bereit sind, den Autoritarismus der Regierung hinzunehmen. Wenn Großbritannien von dem gefährlichen Weg in Richtung Autokratie abkommen soll, dann muss die Regierung von der Öffentlichkeit dazu gezwungen werden.

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10 Kommentare

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  • @Wahlschottin

    Ein Teil der Beispiele die sie schreiben sind Zeugnis liberaler Politik - wie absurd sie das auch finden mögen.

    Unterbindung von Sprechverboten, Liberalisierung des Fernsehsenders können ohne weiteres so aufgefasst werden.

    Ein Teil der von ihnen genannten Ereignisse sind hart und vielleicht macchiavelistisch - genannt sei der Rauswurf der Nicht-Brexiters aus der Fraktion (nicht aus dem Unterhaus!) - gennant sei auch das Verbot des Chefs der BBC an die untergebenen Angestellten, ihre privaten Twitteraccounts für politische Meldungen zu nutzen - wenngleich das auch im Linksliberalismus gängige Praxis ist und es Shitstorms und auch Entlassungen hagelt, wenn bei uns öffentliche Funktionsträger politisch dem linksliberalen Spektrum zufolge ungeheuerliche Aussagen tätigen.

    Das ist also vielleicht unschön, aber wäre dann konsequent auch bei uns zu unterbinden auch wenn jemand "die richtigen Aussagen" (d.h. politisch genehmen) schreibt.

    Der Rest vond em was sie Schreiben ist etwas Patriotismus wie mit dem OBON-Tag, die Regierung lässt sich nicht überall in die Karten schauen - intransparent, von oben herab - scheint vom politischen System gedeckt zu sein.

    Aber wo ist da "Faschismus"?

    Ich kann unpräzisen, geschichtsvergessenen Sprachgebrauch nicht ausstehen - selbst wenn er mit guten Absichten erfolgt.

  • "Etliche Aufträge sind an persönliche Bekannte von Regierungsmitgliedern gegangen, obwohl sie keinerlei Erfahrung haben. In jedem einigermaßen funktionierenden Rechtsstaat hätte dies Konsequenzen."



    Welches Land war das bitte noch einmal, in dem das genau so passiert ist? Deutschland kann es nicht sein, denn



    "Bereits in mehreren Fällen haben Gerichte entschieden, dass die Regierung bei der Vergabe von öffentlichen Aufträgen während der Pandemie gesetzeswidrig gehandelt hat."



    Ohne Klage kann ein Gericht nicht tätig werden und unsere deutschen Staatsanwaltschaften sind weisungsgebunden.

  • Die Subüberschrift ist falsch. Er verändert Großbritannien autoritär. Wer das tut, ist ein Clown. Und zwar ein unlustiger.

  • Es ist traurig. Egal ob Biden, Laschet oder Johnson. Der Westen zündelt an der Schnur, die letzten demokratischen Bastionen wegzusprengen, und dem Faschismus wieder Tür und Tor zu öffnen.



    (Mal sehen, wie lange solche Aussagen noch getroffen werden können.)

    In den USA werden zurzeit unter wohlfeilem Bezug auf den 6. Januar massenweise Rechte demontiert, allen voran jener 1. Artikel, der dem Land angeblich so wichtig ist.

    • @Orwell1984:

      Es gibt tatsächlich jede Menge Entwicklungen die erheblichen Anlass zur Sorge geben, allzu weit gefasst und beliebig sollte man den Faschismus-Begriff dann aber trotzdem nicht verwenden weil er damit an notwendiger Schärfe verliert. Es gibt eben doch relevante Unterschiede, die Methode des historischen Faschismus bzw. NS war die erzwungene Gleichschaltung von Wirtschaft, Medien, Gesellschaft und Kultur, die Methode der zeitgenössischen Rechtspopulisten ist die extreme Polarisierung. Von politischen Säuberungen und systematischen Pogromen sind glücklicherweise selbst Typen Trump oder Orban erheblich entfernt. Und klar, Biden oder Laschet sind sicher keine Musterbeispiel für eine klar links-emanzipatorische Politik, aber der Vorwurf anti-demokratischer Bestrebungen gar des Faschismus scheint mir doch etwas übers Ziel hinaus zu schießen.

      • @Ingo Bernable:

        Leider nein, bei der Gleichschaltung sind wir hier schon gut vorangekommen. /s Das Parlament hat sich selbst ausgehebelt – Vertraege mit anderen Nationen, zB zu Handel etc post-Brexit, werden von Ministern unterschrieben und der Volksvertretung nicht mehr vorgelegt. Widerspruch, Einsichtnahme, Einflussnahme ist unmoeglich. Johnson hat 2019 jeden einzelnen Konservativen, der nicht fuer Brexit gestimmt hat, aus der Fraktion geworfen. Das Bildungsministerium hat ein “Office for Students” eingerichtet, was darueber wacht, dass z.B. auch Holocaust-Leugner auf Uni-Veranstaltungen auftreten duerfen – oder die Uni wird verklagt. Letzten Freitag war “One Britain One Nation” Tag, an welchem Schulkinder aufgefordert wurden, rot-weiss-blau zu tragen und die OBON-Hymne zu singen & Faehnchen zu schwingen. Ein MP hat kuerzlich eine Kamagne gestartet, ein Foto von der Koenigin schick im Bilderrahmen in jeden Haushalt des Landes zu schicken. Der neue Chef der BBC ist ein Tory und als erste Amtshandlung verbot er den eigenen Reportern und Fernsehstars, ihre privaten Twitter-Accounts fuer politische Aeusserungen zu nutzen. Als Privatperson auf Demos gehen, wie Black Lives Matter oder Pride, ist auch untersagt. Channel 4, in oeffentlicher Hand aber komplett aus Werbeeinnahmen finanziert, soll jetzt privatisiert werden, um “besser die oeffentliche TV-Landschaft zu ergaenzen.” Channel 4 News gewinnt jedes Jahr Preise fuer seine kritischen Berichterstattungen, und jetzt ratet mal, was damit passieren wuerde, wenn jemand wie Rupert Murdoch das in die Finger kriegen wuerde. Plus, GB News ist gerade hier gestartet, das englische Aequivalent zu FoxNews und genauso rechtslastig. George Osborne, ehemals Finanzminister unter David Cameron, ist neulich zum Chef des Britischen Museums ernannt worden. Der Mann hat keine Qualifikationen, aber er ist ein Tory, das reicht.



        Es passiert nicht ganz so hau-ruck und offensichtlich wie in den 1930ern, aber es passiert.

        • @wahlschottin:

          Ah ja, und schreiben sie diesen Kommentar aus dem Untergrund oder aus dem Exil? Oder könnte es sein, dass sie doch recht sicher darauf vertrauen können für derlei regierungskritische Zeilen nicht auf Nimmerwiedersehen in den Folterkellern der Geheimpolizei zu enden?



          Selbstverständlich sind die Entwicklungen die sie beschreiben kritisch zu sehen und natürlich muss man ihnen entgegen treten. Aber das ist immer noch mit zivilen Mitteln möglich und ohne dabei sofort um sein Leben fürchten zu müssen. Wenn sie da tatsächlich keinen Unterschied erkennen können, rate ich dringend zur Lektüre eines Geschichtsbuches.

          • @Ingo Bernable:

            2/2 Es geht nicht wie damals um einen Fuehrer- oder Parteien-Kult, es geht um einen GB-Kult, und "GB" ist hier "England". Dieser Kult wird gezielt gefoerdert, wenn noetig auch per Gesetz, und andere Meinungen oder gar Kritik an "England" sind nicht zugelassen. Ein MP twitterte oeffentlich: "Wenn Menschen nicht stolz darauf sind, Briten zu sein, oder stolz auf die Fahne oder die Koenigin sind, dann sollten sie nicht in Grossbritannien leben. Dann sollten sie in ein anderes Land ziehen." Was sich auch mit den Worten "wer nicht fuer uns ist, ist gegen uns" zusammenfassen laesst. Und das ist kein Patriotismus mehr, das ist Nationalismus.



            Ich setze in diesem Kontext GB bewusst mit England gleich, denn dort existiert dieser Zustand. Wales und Nordirland haben ihre Nationalversammlungen, Schottland hat sein eigenes Parlament. In allen dreien sind Gerichtsbarkeit & Polizei, Bildungswesen etc in verschieden starkem Masse den eigenen Laendern zugeordnet. Schottland ist dabei noch am "unabhaengigsten" von England, und wir sind von diesem Wahnsinn nur indirekt betroffen. (Habe also noch keine Angst vor dem Folterkeller der Geheimpolizei.) Aber Brexit hat Fremdenfeindlichkeit, das Ausgrenzen des "Anderen", nicht-Englischen, salonfaehig gemacht und legitimiert. Und Einwanderung ist nicht devolved und wird immer noch von Westminster UK-weit geregelt. Theresa May als uns Einwanderer aus Europa seinerzeit als "citizens of nowhere" beschrieben. Sie erinnern sich, wer auch von "Menschen, die ueberall und nirgends zu Hause sind" geredet hat?

          • @Ingo Bernable:

            1/2 Ich habe nicht gesagt, dass unser Leben hier schon physisch bedroht wird. Das war auch in Deutschland direkt mit den Gesetzen 1933 und 1934 nicht der Fall - dieser Horror kam spaeter. Sie haben Recht, es ist nicht derselbe Vorgang wie damals. Aber dass es hier nicht 1:1 wie seinerzeit vonstatten geht, heisst nicht, dass es nicht doch passiert. Und was hier passiert, ist die geplante Gleichschaltung des oeffentlichen Lebens und der oeffentlichen Meinung. Eine nationale Institution wie die BBC untersteht jemandem, der freie Meinungsaeusserung unterdrueckt, waehrend kritische Berichterstattung der Konkurrenz ausgeschaltet wird. Nicht per Gesetz, sondern per Privatisierung. Das Polizei-Ermaechtigungsgesetz erhaelt das Recht auf Protest nominell aufrecht, aber beschneidet es soweit, dass es nicht mehr durchfuehrbar ist. Dasselbe Gesetz sieht 10 Jahre Haft fuer das Umstuerzen eine Statue vor, wie bspw. waehrend der BLM-Proteste. (Im Vergleich, fuer Vergewaltigung gibt es 5 Jahre.) Schulen sind angewiesen, Themen und Organisationen, die sich mit der Abschaffung des Kapitalismus' befassen, im Unterricht nicht zu erwaehnen - was z.B. die Arbeiterbewegung, Marx und alles aus dem Jahr 2008 beinhaltet. Nicht ganz Buecherverbrennung, aber wenn ich es nicht in der Schule lerne, wo dann? Standpunkte, die der Regierungsmeinung widersprechen ("victim narratives that are harmful to British society"), sind auch untersagt. Das staatlich verordnete Faehnchen-Schwingen gibt dem noch eine ganz andere Dimension.

            • 8G
              82286 (Profil gelöscht)
              @wahlschottin:

              Schade, daß ich ihren engagierten Beitrag erst heute lese.



              @INGO BERNABLE, dessen Beiträge ich sehr schätze, scheint mir hier zu optimistisch.



              Weil: die Weigerung, sich an die selbst auferlegten Regeln eines demokratischen Staates (GG) zu halten, potenziell zunimmt (siehe Polizeigesetzt in NRW), so meine Warnehmung.



              Ich gestehe aber, daß ich grundsätzlich Separatisierungs-Gegner bin (LegaNord in I) oder in Katalonien.