Rechtsruck in Großbritannien: Eine illiberale Demokratie
Wer Boris Johnson für einen Politclown hielt, hat sich getäuscht. Er verändert Großbritannien in eine autoritäre Richtung.
B oris Johnson ist ein unterhaltsamer Politiker. Wortgewandt und leichtfüßig versteht der britische Premierminister, trockene politische Angelegenheiten mit Witz und erfinderischer Rhetorik zu garnieren und schlagzeilentauglich zu machen.
Es war nicht zuletzt seine mangelnde Seriosität, die viele Politikexperten dazu verleitete, seine Wirkung auf die Wähler zu unterschätzen. Der Brexit führte nicht, wie oft prognostiziert, zur Spaltung der Tory-Partei – im Gegenteil, er hat es Johnson ermöglicht, die konservative Vorherrschaft zu zementieren.
Aber hinter der clownhaften Fassade des Premierministers verbirgt sich ein beinharter Politiker. Johnson verfolgt zunehmend einen Autoritarismus, der grundlegende Bürgerfreiheiten bedroht. In Brexit-Britannien lassen sich in Umrissen die Merkmale eines autokratischen Regimes erkennen – Angriffe auf die Meinungs- und Versammlungsfreiheit, eklatante Korruption, kaltherzige Politik gegen Migranten. Das ist brandgefährlich. Aber die Opposition schläft – der Widerstand muss von der Straße kommen.
Eine der führenden Vertreterinnen der autoritären Politik ist die Innenministerin Priti Patel, deren reaktionäre Haltung haarsträubend ist – bis vor einigen Jahren war sie eine Vertreterin der Todesstrafe. Die Hardlinerin schimpft über die „Gutmenschen“ und „linke Anwälte“, die vom angeblich kaputten Asylsystem profitieren.
Laut einer neuen Vorlage sollen Flüchtlinge, die auf „illegalem“ Weg nach Großbritannien kommen, kein Anrecht auf Schutz mehr haben. Wer es zum Beispiel in einem Gummiboot über den Ärmelkanal schafft, soll abgeschoben werden. Menschen aus Kriegs- und Krisengebieten, die ihr Leben riskieren, um in Großbritannien eine neue Existenz aufzubauen, sollen hier nicht willkommen sein. So viel Kaltherzigkeit muss man erst einmal haben.
Ein migrationsfeindliches Klima
Noch ist das Gesetz erst ein Vorschlag, aber die aggressive Rhetorik hat bereits jetzt Konsequenzen. EU-Migranten berichten von Problemen an der Grenze. Eine Bulgarin wurde von einem Zollbeamten am Flughafen gewarnt, bitte nicht zu lange im Land zu bleiben – obwohl sie seit über zehn Jahren in London wohnt und mit einem Engländer verheiratet ist, das Bleiberecht aber nicht erhalten hat. Das ist eine Folge der migrationsfeindlichen Linie, die von oben vorgegeben wird: Die Behörden werden dazu ermuntert, Rassismus und Xenophobie zu signalisieren.
Neben Flüchtlingen zählen auch Protestierende zu den Lieblingsfeinden der Innenministerin. Sie bezeichnet die Aktivist*innen von Extinction Rebellion als „Kriminelle“. Dass die Polizei nicht genügend Instrumente in der Hand hält, um gegen die irritierend friedlichen Proteste der Klimabewegung vorzugehen, sorgt in Westminster für tiefe Frustration.
Protest? Nur leise legal
Also muss ein weiteres Gesetz her: Die neue „Polizeivorlage“ soll dem Staat die nötigen Befugnisse geben, um Proteste jeder Art zu unterbinden. So kann die Polizei beispielsweise genaue Anfangs- und Endzeiten von Demos vorschreiben, und sie kann Protest verbieten, wenn er zu laut ist. Solche Vorschläge haben schlichtweg keinen Platz in einer Demokratie.
Auch auf dem ideologischen Schlachtfeld rüstet die Regierung auf. Alles, was irgendwie progressiv oder „woke“ erscheint, gilt als gefährlich. „Wir wollen nicht, dass unsere Lehrer ihren weißen Schülern Unterricht zu White Privilege geben“, sagte die Ministerin für Gleichstellung, Kemi Badenoch.
Institutioneller Rassismus in Großbritannien existiert laut der Regierung nicht, obwohl er durch unzählige Studien belegt und offenkundig ist. Auch sind Schulen aufgefordert worden, „antikapitalistisches Material“ im Unterricht zu vermeiden. Es handle sich dabei um eine „extreme politische Haltung“, vergleichbar mit – kein Witz – der Ablehnung von Redefreiheit.
Antikapitalismus gleich antidemokratisch
Und dann ist da die Korruption. Bereits in mehreren Fällen haben Gerichte entschieden, dass die Regierung bei der Vergabe von öffentlichen Aufträgen während der Pandemie gesetzeswidrig gehandelt hat. Etliche Aufträge sind an persönliche Bekannte von Regierungsmitgliedern gegangen, obwohl sie keinerlei Erfahrung haben.
In jedem einigermaßen funktionierenden Rechtsstaat hätte dies Konsequenzen. Zumindest würde man dem Minister nahelegen, zurückzutreten. Nicht so in Brexit-Britannien – hier zuckt die Regierung mit den Schultern und macht weiter.
Eine wirksame Opposition würde reichlich Material finden, um aus der Regierung Hackfleisch zu machen – oder sich zumindest als progressive Alternative zu diesem autoritären Rechtskonservatismus zu positionieren. Aber unter der Führung des überaus blassen Keir Starmer hat Labour die Opposition praktisch aufgegeben. Viel zu schüchtern tritt die Parteiführung auf, stets in der Angst, sozialkonservative Wähler zu verschrecken.
Letzte Hoffnung – die Straße
Hoffnung macht hingegen der Widerstand auf der Straße. Tausende Bürger*innen sind durch London und andere Städte gezogen, um gegen das Polizeigesetz zu protestieren. Als der Mord an der jungen Londonderin Sarah Everard im März das ganze Land erschütterte, formierte sich eine breite gesellschaftliche Bewegung, die mehr Sicherheit für Frauen im öffentlichen Raum fordert.
Die Black-Lives-Matter-Bewegung hat im vergangenen Sommer riesige Demonstrationen organisiert. Und schließlich mehrt sich der Widerstand gegen die reaktionäre Einwanderungspolitik. In Schottland wächst seit Monaten die Kritik an den Razzien der Migrationsbehörden – und die Bürger*innen werden aktiv. Im Mai blockierten über Tausend Menschen einen Lastwagen der Migrationsbehörden, der zwei indische Migranten mitnehmen sollte. Den Behörden blieb nichts übrig, als die Migranten wieder freizulassen.
Solche Solidarität macht Mut. Sie zeigt, dass viele nicht bereit sind, den Autoritarismus der Regierung hinzunehmen. Wenn Großbritannien von dem gefährlichen Weg in Richtung Autokratie abkommen soll, dann muss die Regierung von der Öffentlichkeit dazu gezwungen werden.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Historiker Traverso über den 7. Oktober
„Ich bin von Deutschland sehr enttäuscht“
Elon Musk greift Wikipedia an
Zu viel der Fakten
Grünen-Abgeordneter über seinen Rückzug
„Jede Lockerheit ist verloren, und das ist ein Problem“
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Das Weihnachten danach
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
Der Fall von Assad in Syrien
Eine Blamage für Putin