Rechtsextreme und Linke in Göttingen: Ein Gerangel, drei Versionen
In Göttingen geraten AfD-Mitglieder und linke Aktivisten aneinander. Das alternative Hausprojekt OM10 widerspricht nun der Darstellung der Polizei.
Nach jahrelanger relativer Abstinenz zeigen Rechtsextremisten in Göttingen wieder offen Präsenz. Vorläufiger Höhepunkt ist eine handfeste Auseinandersetzung zwischen AfD-Mitgliedern und Leuten aus dem Umfeld des linken Hausprojekts „OM10“. Die Beteiligten wetteifern auch um die Deutungshoheit über den Vorfall.
Die Polizei war mit ihrer Bewertung am schnellsten. Am Abend des 4. Oktober sei es in der Innenstadt zu einem „mutmaßlichen Übergriff“ durch mehrere Personen aus dem Umfeld des Objekts OM10 auf Mitglieder der AfD gekommen, berichtete die Pressestelle der Göttinger Polizeiinspektion am Folgetag. Zwei Personen aus der angeblich angegriffenen Gruppe hätten dabei leichte Verletzungen erlitten, eine ärztliche Behandlung jedoch abgelehnt.
Rund 15 AfDler, darunter auch der zum „Höcke-Flügel“ zählende Bundestagsabgeordnete Micha Wehre aus Hannover, hätten sich zuvor im Rahmen einer parteiinternen Veranstaltung in einem Restaurant getroffen, so die Polizei. Im Anschluss an die Zusammenkunft habe sich die Runde zu einem Spaziergang durch die Göttinger City aufgemacht, „dabei wollte sie nach eigenen Angaben ‚interessehalber‘ an dem Gebäude OM10 vorbeigehen.“
OM10 steht für Obere-Masch-Straße und die Hausnummer 10. In dem Gebäude residierte lange Zeit der DGB, dann stand es leer, wurde besetzt und schließlich von einer Initiative gekauft und in Eigenarbeit saniert. Heute bietet die OM10 Wohnraum unter anderem für Geflüchtete und einen Saal für Veranstaltungen, in einem Anbau haben die linken Anhänger des Fußballvereins Göttingen 05 ihren Fanraum eingerichtet.
AfD verbreitet Fake News
Im weiteren Verlauf der Nacht stoppten Polizisten nach eigenen Angaben „in Tatortnähe“ fünf verdächtige Personen. Gegen die zwei Frauen und drei Männer seien Ermittlungen wegen gefährlicher Körperverletzung eingeleitet worden.
Am 6. Oktober zog die AfD mit einer eigenen – und eigenwilligen – Geschichte nach und tischte dabei eine veritable Räuberpistole auf. Wie der Göttinger AfD-Kreisverband auf Facebook schilderte, sollen die vermeintlichen Angreifer aus der OM10 einem Mitglied der AfD-Gruppe eine Glasflasche auf die Stirn geschlagen haben, „so dass diese zerbrach“. Der Mann habe deshalb in der Notaufnahme eines Göttinger Krankenhauses behandelt werden müssen.
Von diesem Schlag mit der Flasche ist der Polizei und in den Krankenhäusern allerdings nichts bekannt. „Entsprechende Verletzungen wurden während der Sachverhaltsaufnahme am Samstagabend vor Ort von der Polizei weder aufgrund eigener Wahrnehmungen festgestellt, noch von den Attackierten oder anderen Personen aus der AfD-Gruppe gegenüber den Beamten angegeben“, sagte eine Polizeisprecherin.
Lisa Schnell, OM10-Sprecherin
Am vergangenen Freitag meldete sich schließlich die OM10 selbst mit einer „Richtigstellung“ zu Wort. Am fraglichen Abend hätten sich etwa 20 Personen aus dem AfD-Spektrum vor dem Hausprojekt versammelt und dort für ein Foto positioniert. Eine Person habe die Gruppe angesprochen, sei aber von den AfDlern „unvermittelt brutal angegriffen“ worden. Durch schnelles Handeln von Menschen, die sich rund um die OM10 aufhielten, habe Schlimmeres verhindert und die Gruppe Rechtsextremer von der OM10 und dem benachbarten Platz der Synagoge ferngehalten und vertrieben werden können.
Weitere rechte Angriffe in Göttingen
„Die versuchte Provokation mit Posieren vor unserer Hausfassade, sowie die unvermittelte Körperverletzung ist ein klarer Angriff auf unser Hausprojekt, das für Werte wie Vielfalt, Solidarität und Antirassismus steht“, sagt OM10-Sprecherin Lisa Schnell. Sie sieht einen Zusammenhang mit weiteren rechten Aktivitäten: Ebenfalls in der Nacht zum 5. Oktober waren Wände, Tische und Fenster des linken Cafés „Dots“ in der Innenstadt mit 13 großformatigen Hakenkreuzen beschmiert worden.
Nach Angabe von Dots-Geschäftsführer Hendrik Oberwinter hat es einen so massiven Angriff auf das Café noch nicht gegeben. Aber in der jüngsten Vergangenheit habe die Zahl von Aufklebern mit rechten Inhalten im Umfeld des Cafés massiv zugenommen. In den Wochen davor brannte es mehrmals vor einem islamischen Supermarkt in der Nordstadt. „Diese Vorkommnisse müssen in einen Zusammenhang mit verstärktem Eindringen von faschistischen Kräften in die Stadt gestellt werden“, so Lisa Schnell.
Der jüngste Zwischenfall ereignete sich am vergangenen Donnerstagabend am Parteibüro der Grünen. „Fünf dunkel gekleidete Jugendliche“, so die Polizei, sollen gegen die Scheiben geschlagen und „Fuck Grüne“ gerufen haben. Einer der Störer habe durch das Fenster auf einen AfD-Aufkleber auf seinem Handy gezeigt. Vor ihrem Abzug sollen die mutmaßlichen Rechtsextremisten noch ein Bügelbrett von einem Sperrmüllhaufen geklaubt und auf die inzwischen aus ihrem Domizil gekommenen Grünen geschleudert haben.
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