Rechtsextreme „NSU 2.0“-Drohserie: Versendete Polizist erstes Drohfax?
Im „NSU 2.0“-Prozess fordert die Nebenklage einen Freispruch des Angeklagten für das erste Drohschreiben. Dieses soll ein Polizist verschickt haben.
Im Prozess forderte nun Antonia von der Behrens, die Anwältin von Başay-Yıldız, den Angeklagten Alexander M. für dieses erste Drohfax freizusprechen. Denn alles spreche dafür, dass nicht er, sondern der Frankfurter Polizist Johannes S. für dieses verantwortlich sei.
Es gebe dafür eine „Fülle von Indizien“, erklärte von der Behrens. Für alle weiteren 82 Schreiben der Drohserie, die ab Dezember 2018 bis März 2021 von einer Yandex-Emailadresse verschickt wurden, sei aber Alexander M. verantwortlich.
In einem langen Beweisantrag trug von der Behrens die Indizien gegen Polizist Johannes S. vor. So sei bereits der Abruf der Daten von Başay-Yıldız auf dem Frankfurter Polizeirevier auffällig. Fast sechs Minuten lang und mit 17 Eingaben wurde damals auf drei Datenbanken nach Informationen zu Başay-Yıldız gesucht – zu ihrer Adresse, dort gemeldeten Personen und deren Daten, zu möglichen Straftaten oder gemeldeten Fahrzeugen. Ein sehr untypischer Vorgang, den bisher keiner der Polizeibeamten erklärten konnte, erinnerte von der Behrens.
Ein Alibi stellte sich als falsch heraus
Abgerufen wurden die Daten auf dem Dienstrechner der Polizistin Miriam D. – der aber stand ungesperrt allen offen. Und ihr Kollege Johannes S. war damals im Revier vor Ort, weshalb früh auch gegen ihn ermittelt wurde. Laut Einsatzprotokollen befand sich sein Streifenwagen zum Abfragezeitpunkt auf der Wache – und auch als das Fax verschickt wurde. Dass S. in der Zeit Vorgänge bearbeitete, sei nicht dokumentiert, so von der Behrens.
Stattdessen stellte sich ein mögliches Alibi als falsch heraus: In einem Einsatzprotokoll war vermerkt, dass Johannes S. mit einem Kollegen am Nachmittag in einem Einsatz war – in der Zeit, als das Drohfax versendet wurde. Ermittler stellten später aber fest, dass dieser Einsatz tatsächlich erst ab 16.30 Uhr stattfand, also nach dem Versand. Wie es zu der falschen Uhrzeit kam, konnten die beiden Polizisten nicht erklären.
Auffällig auch: Am Tattag, dem 2. August 2018, nutzte Johannes S. sein Handy so stark wie sonst nie. Gleich 81 Mal gab es einen Zugriff auf sein Handy – weit mehr als in den Tagen zuvor und danach. Was S. damit tat, ist weitgehend ungeklärt. Just um den 2. August 2018 herum hatte Johannes S. eine Vielzahl seiner Chats gelöscht.
Bezeichnende Google-Suchen
Zudem fanden sich bezeichnende Google-Suchen auf seinem Handy. So war dort explizit nach „Yildiz in Frankfurt“ und „Rechtsanwältin“ gesucht worden. Und Johannes S. hatte sich zuvor auch über Sami A. informiert, einen Islamisten, der im Sommer 2018 zu Unrecht abgeschoben wurde und den Başay-Yıldız vertrat. Der Fall machte Schlagzeilen – und wurde im ersten Drohfax an Başay-Yıldız erwähnt. Der Tod ihrer Tochter werde „die Vergeltung“ für Başay-Yıldızs Einsatz für Sami A., hieß es dort. Von der Behrens verwies auch auf einen früheren Chatbeitrag von Johannes S., in dem dieser schrieb, er habe auch den Islamisten Bilal G. „gestalked“ – den Başay-Yıldız ebenfalls vertrat.
Zudem steht Johannes S. schon länger unter Rechtsextremismusverdacht. Ermittler fanden Fotos, die ihn mit Hitlergruß zeigten. Auch in einer Polizei-Chatgruppe namens „Itiotentreff“ teilte Johannes S. rassistische Beiträge. Bis heute wird deshalb gegen ihn und die anderen Beamten ermittelt. In einem weiteren Chat von Johannes S. schrieb ihm ein Chatpartner: „Ich reiß dir den Kopf ab und scheiß dir in den Hals.“ Ein Filmzitat – jedoch eines, das genau so auch in NSU 2.0-Drohschreiben auftauchte.
Noch ein Indiz: Başay-Yıldız erhielt das Drohfax über einen Onlineanbieter, auf den zuvor mit einer Tor-Verschlüsselung zugegriffen wurde. Johannes S. kannte sich damit aus. Auf einer Polizeischule hielt er schon 2014 einen Vortrag zur Nutzung von Tor-Browsern. Und auf seinem Ipad, das er auch im Dienst nutzte, waren gleich zwei Tor-Browser installiert. Ermittler stellten zudem fest, dass das Drohfax sehr wahrscheinlich von einem Handy oder Tablet verschickt wurde, nicht von einem PC. Das würde zu dem Ipad von Johannes S. passen – bei Alexander M. wurde dagegen kein tor-fähiges, mobiles Gerät gefunden. Und, Zufall oder nicht: Kurz nach dem Versand des Drohfaxs an Başay-Yıldız verkaufte Johannes S. sein Ipad.
Austausch im Darknet?
Wenn aber der Verdacht gegen Johannes S. stimmt, wie kam der in Frankfurt angeklagte Alexander M. an die Privatdaten von Başay-Yıldız, die auch in späteren Drohschreiben auftauchten? Die Nebenklage vermutet, dass Johannes S. diese Daten ins Darknet stellte. Einen konkreten Eintrag fand sie nicht. Sowohl Johannes S. als auch Alexander M. seien aber im Darknet unterwegs gewesen, erklärte von der Behrens. Und das Zusammentragen von Privatdaten von Prominenten, sogenanntes Doxing, sei dort nicht selten.
Zudem gebe es noch eine Auffälligkeit: Für ein Drohschreiben wurde als Absender der frühere Polizeiausbilder von Johannes S. angegeben. Dass Alexander M. zufällig auf just diesen Namen stieß, sei unwahrscheinlich, findet von der Behrens. Mehr spreche dafür, dass sich auch über diese Ausbilder im Darknet ausgetauscht wurde.
Von der Behrens kritisierte, dass die Ermittler „nie den Ermittlungsansatz verfolgten, dass an der Drohserie auch mehrere Personen beteiligt waren“. Für Başay-Yıldız bleibe somit unklar, inwieweit sie und ihre Familie auch nach der Festnahme von Alexander M. noch gefährdet sei. Die Anwältin beantragte neben dem Teilfreispruch für Alexander M. auch die Ladung von Johannes S. als Zeugen in den Prozess.
Staatsanwaltschaft ermittelt noch gegen Johannes S.
Die Staatsanwaltschaft Frankfurt/Main äußerte sich vorerst nicht zu dem Antrag. Sie hatte zuletzt aber der taz bestätigt, dass sie wegen der Datenweitergabe weiterhin ein Ermittlungsverfahren gegen Johannes S. führt. Der Tatverdacht habe sich bisher jedoch nicht bestätigt.
Auch die taz hatte bereits vor längerer Zeit zu der Beteiligung von Johannes S. an der NSU 2.0-Drohserie recherchiert. Als unsere Zeitung ihn dazu Zuhause befragen wollte, lehnte er ab: Er habe an einem Gespräch „kein Interesse“.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Umfrage zu Sicherheitsgefühl
Das Problem mit den Gefühlen
Deutschland braucht Zuwanderung
Bitte kommt alle!
„Freiheit“ von Angela Merkel
Die Macht hatte ihren Preis
Der alte neue Präsident der USA
Trump, der Drachentöter
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens