Rechter Terror vor der NSU: Der Buchhändler und der Neonazi
Jahre vor der NSU zog ein Berliner Neonazi los, um einen Linken zu ermorden. Kay Diesner schoss auf Klaus Baltruschat. Er überlebte und demonstriert noch heute gegen Neonazis.
BERLIN taz | Der November war nicht gut, sagt Käthe Baltruschat. Als sie in der Zeitung von den drei Neonazis las, die jahrelang mit einer Kleinfeuerwaffe durchs Land gezogen waren und am Ende neun Migranten und eine Polizistin getötet hatten, ist es in ihrem Wohnzimmer ganz still geworden.
„Wie Diesner“, hätten sie und Klaus sofort gedacht, sagt die Frau mit der kurz geschnittenen Dauerwelle. Zwei Wochen lang herrschte viel Schweigen. „Stimmt’s, Klaus?“ Käthe Baltruschat, die zwischen Wohnzimmer und Küche pendelt, bleibt kurz stehen. „Da hat man gemerkt, dass uns die Sache doch noch ganz schön bewegt.“
Klaus Baltruschat nickt. „Stimmt schon.“ Der 77-Jährige mit den weißen Haaren ist kein Mann ausschweifender Worte. Ruhig folgen seine Blicke seiner Frau, die wieder in der Küche verschwindet. Baltruschat lehnt sich in ein Kissen seines Ecksofas. Vor ihm die helle Schrankwand, rechts ein Aquarium, links die tickende Wanduhr. Eine Neubauwohnung wie viele im Osten Berlins, Köpenick.
Eigentlich, sagt Baltruschat, denke er täglich an Diesner. „Das wirste nicht los.“ Baltruschat hebt seine linke Schulter, an der sein Hemdärmel schlaff herunterhängt. „Wie auch?“
Prall gefüllter Aktenordner
Es war kurz nach neun Uhr am 19. Februar 1997, ein Mittwochmorgen. Klaus Baltruschat hat soeben seinen kleinen Buchladen in Berlin-Marzahn aufgeschlossen, der vor allem linke politische Literatur verkauft. Baltruschat ist der Erste im Haus, in dem auch der PDS-Abgeordnete Gregor Gysi sein Büro hat. Eine dörfliche Ecke, hinter der sich Plattenbauten erheben. Plötzlich steht ein Mann im Türrahmen zu Baltruschats kleinem Büroraum, in der Hand eine Schrotflinte.
Baltruschat reißt noch die Arme hoch, dann beginnt der Mann zu schießen. Der damals 62-Jährige fällt zu Boden, sein linker Arm ist zerfetzt, die rechte Hand blutet. Der Unbekannte verschwindet. Baltruschat schleppt sich noch auf die Straße.
Er wird überleben. Sein linker Arm und der kleine Finger der rechten Hand aber sind nicht mehr zu retten.
Der Schütze wohnt nicht weit vom Buchladen entfernt, in einem der Hochhäuser: Kay Diesner. Ein Berliner Rechtsextremist, kurze dunkle Haare, stoppeliger Bart, 24 Jahre alt. Vier Tage wird Diesner mit seinem Mazda-Kombi nach der Tat durch Norddeutschland irren, mit schusssicherer Weste, im Kofferraum ein Waffenlager. Pistolen, Macheten, Schlagstöcke.
Blood and Honor prophezeit einen Bürgerkrieg
Als Diesner auf einem Rastplatz bei Hamburg in eine Polizeikontrolle gerät, schießt er unvermittelt. Der 34-jährige Beamte Stefan Grage wird tödlich getroffen, sein Kollege schwer am Bein und im Gesicht verletzt. Diesner flüchtet mit seinem Mazda, beschießt alarmierte Polizeiwagen. Dann gibt er auf. Einen Polizisten blafft er an, warum man ihn nicht gleich erschossen habe?
Diesners Tat fällt in eine Zeit, in der sich die rechte Szene Ende der 90er Jahre militant radikalisiert. Das Neonazi-Netzwerk Blood and Honor prophezeit einen Bürgerkrieg. In Saarbrücken explodiert vor der Wehrmachtsausstellung ein Sprengsatz, in Berlin wird der Grabstein des früheren Vorsitzenden des Zentralrats der Juden, Heinz Galinski, gesprengt.
Die Polizei beschlagnahmt bei Neonazis in Ingolstadt, Bocholt, Göttingen, Berlin und Bochum Rohrbomben, Gewehre oder Granaten. Im Januar 1998 auch in Jena. Die drei Bombenbauer tauchen daraufhin unter. Beate Zschäpe, Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt.
Auf dem Wohnzimmertisch vor Klaus Baltruschat liegt ein Aktenordner, so prall gefüllt, dass die Deckel kaum schließen. Baltruschat hat alles über seinen Beinahmörder gesammelt. Artikel, Gerichtsdokumente, Propaganda von Rechtsextremen. Zwei weitere Ordner enthalten Briefe an Baltruschat nach dem Attentat. Während er im Krankenhaus liegt, betreiben Bekannte seinen Laden weiter, ehrenamtlich. „Das war schon eine starke Solidarität“, sagt Baltruschat.
Solidarität, Baltruschat ist dieser Wert wichtig. Der Ostberliner war schon in der PDS, als diese noch SED hieß. Bis heute besucht er die Sitzungen seines Ortsverbands, am 1. Mai heftet er sich rote Nelken ans Revers.
Die Polizei weiß anfangs nicht, dass ein Neonazi auf Baltruschat schoss. Sie ermittelt in alle Richtungen, prüft auch eine angebliche Liaison des Buchhändlers mit einer Frau – die Baltruschat, wie er später sagt, gar nicht kennt. Erst als die Beamten Diesner auf der Autobahn festnehmen, wissen sie, wer der Schütze von Marzahn war.
Neugier statt Hass
Als Kay Diesner im August 1997 vor dem Landgericht Lübeck der Prozess gemacht wird, reisen Klaus und Käthe Baltruschat zu jeder Verhandlung. Mal mimt der Neonazi den Abwesenden, mal den Provokateur. Er habe die PDS als „undeutsche Partei“ bestrafen und sich für einen Angriff von Autonomen auf eine NPD-Demo rächen wollen, sagt Diesner aus. Den „Bolschewisten“ habe er „nur anschießen“ wollen. Und was ist mit dem Polizisten, fragt der Richter. „Bullen“, sagt Diesner, könne man „in den Rücken, in den Kopf schießen, wo man sie trifft“.
Klaus Baltruschat sagt, er habe keinen Hass auf Diesner empfinden können. „Da war einfach Neugier, warum so ein junger Mann zum Mörder wird.“ Mehrfach hat Baltruschat versucht, Diesner zu treffen. Der lehnte ab, Baltruschat musste selbst nach Antworten suchen. „Diesner hat sich in seinen Hass total reingesteigert. Er war völlig fanatisiert von der rechten Ideologie.“
Im Dezember 1997 wird Diesner zu lebenslanger Haft verurteilt, mit besonderer Schwere der Schuld. Er landet in der JVA Lübeck, wo er heute noch einsitzt. Seine erste Haftprüfung ist in zwei Jahren, 2014. Die Chancen auf Entlassung stehen schlecht.
Baltruschat überlegt nach dem Urteil, einen Zivilprozess wegen Schmerzensgeld anzustrengen. Sein Anwalt rät ab: Vom verschuldeten Diesner sei nichts zu holen. Vom Staat, von der Polizei hört Baltruschat nichts mehr.
Baltruschat hat dies verbittert, bis heute. Er legt ein Papier auf den Wohnzimmertisch, ein Volkskammergesetz. Die DDR, sagt er, habe jedes Gewaltopfer sofort entschädigt. Er will nicht gierig klingen. Sagt, es gehe ihm „ums Generelle“. Der Staat interessiere sich heute einfach nicht für die Opfer rechter Gewalt, für die 135 Toten seit der Wende. Aber gab es nicht jüngst für die zehn NSU-Opfer einen Staatsakt? „Ein Versuch, immerhin“, grummelt Baltruschat.
Baltruschat will stark wirken, stärker als Diesner
Petra Pau, Bundestagsvizepräsidentin der Linkspartei, rauscht im grünen Jackett in ihr Bundestagsbüro, lässt sich auf einen schwarzen Sessel fallen. Als Pau von der NSU erfuhr, rief sie noch am gleichen Abend die Baltruschats an. „Natürlich ging mir Diesner sofort durch den Kopf.“
Pau war 1997 Berliner PDS-Vorsitzende, seit dem Attentat ist sie mit den Baltruschats befreundet. Die Tat, sagt sie mit leiser, rauer Stimme, sei ein Schlüsselereignis gewesen. „Danach war klar, welchem Themengebiet ich mich im Bundestag widme.“ Heute sitzt Pau für die Linke im Untersuchungsausschuss des Bundestags zu den NSU-Morden.
Manchmal treffen sich Pau und Baltruschat auf Demonstrationen gegen Neonazis. „Er sieht das als seine Pflicht“, sagt Pau. Es ist auch ein Stück Selbstbehauptung. Als die NPD ihre Bundeszentrale nur wenige Straßen von Bultraschats Wohnung eröffnet, protestiert das Ehepaar davor für ein Verbot der Partei.
Nach dem Attentat geht Baltruschat in Schulklassen, erzählte von seinem Schicksal. Trainiert weiter die Mädchen-Handballmannschaft von Ajax Köpenick. Geht zurück in den Buchladen, arbeitet noch fünf Jahre, bis zur Rente. „Klein beigeben“, sagt Klaus Baltruschat, „den Erfolg wollten wir Diesner nicht gönnen.“
Baltruschat will stark wirken, stärker als Diesner. Doch manchmal ist die Angst wieder da. Der 77-Jährige spricht nicht gerne darüber, Ehefrau Käthe berichtet davon. „Wenn du ehrlich bist, gehst du bis heute nicht gern zur Tür, wenn’s klingelt.“
Klagen aber wollen die Baltruschats nicht. Ursula von Seitzberg, die Mutter des getöteten Polizisten, habe „wirklich lebenslänglich“. Die Tat habe die 72-Jährige gebrochen, berichten die Baltuschats. Bis heute gehe sie jeden zweiten Tag zum Grab ihres Sohnes. Von Seitzberg und Baltruschats haben sich angefreundet. „Wenn es ganz schlecht geht, besuchen wir uns.“
„Eben Pech gehabt“
Kay Diesner ließ im Prozess keine Reue erkennen, er tut es bis heute nicht. Briefe von Journalisten lässt er unbeantwortet. Für das rechtsextreme Knastheft JVA Report schrieb er 2009: Der „bolschewistische Funktionär hatte eben Pech, dass ich den da antraf“. In der Szene ist er bis heute nicht vergessen. Als sich Berliner Neonazis im Februar treffen, dokumentieren sie dies auf Fotos. Auf einem sieht man ein Banner: „Freiheit für K. Diesner“. 15 Jahre nach der Tat.
Auch Diesner ist Ostberliner. 1989 flieht er in den Westen, später geht der gelernte Feinmechaniker in den Osten der Stadt zurück, verkehrt in einem von Rechtsextremen besetzten Haus in Lichtenberg. Er trifft den Landeschef der „Deutschen Alternative“, Arnulf Priem, der sich als langhaariger Rocker gibt. Diesner wird zu Wehrsportübungen eingeladen. Bereits 1991 steht er wegen einer Messerstecherei vor Gericht. Fünf Jahre später verhaftet man ihn wegen „Bildung eines bewaffneten Haufens“ um Arnulf Priem. Bei seiner Festnahme nach den Todesschüssen sagt Diesner, er kämpfe für den „Weißen Arischen Widerstand“.
Baltruschat kennt die Biografie Diesners, er hat sie in seinem Ordner abgeheftet. Noch mehr als die Sache mit dem Schadensersatz hat ihn die Einschätzung der Ermittler enttäuscht, Diesner sei ein „Einzeltäter“. „Das war er nicht“, sagt Baltruschat. Diesner habe mitten in der rechten Szene gestanden. „Und seine Tat ist doch gewachsen aus dieser Gesellschaft.“
Richter Fritz Vilmar ließ im Dezember 1997 die Frage der Einzeltäterschaft offen. Der Neonazi sei „alleiniges Subjekt“ der Verhandlung gewesen, heißt es im Urteil. Besessen von „einem Vernichtungswillen“ und einer „hemmungslosen Rachsucht gegenüber Andersdenkenden“.
Auch Petra Pau zieht die Einzeltäterschaft infrage. „Diese Leute sind doch nicht vom Himmel gefallen.“ Die Parallelen, Diesner und die NSU, seien erschreckend. Die 48-Jährige beugt sich aus ihrem Sessel, blickt noch angestrengter. Ob sie denn selbst bis letzten November solch eine rechtsextreme Mordserie für möglich gehalten habe? Petra Pau stockt kurz, kneift die Augen zusammen. „Nein.“ Auch in Klaus Baltruschats Wohnzimmer liegt nach dieser Frage kurz Stille. Dann verneint er. „In diesem Umfang? Nein.“ So weit habe die Fantasie nicht gereicht, auch nach Diesner nicht.
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