Rechte und rassistische Gewalt: Die Lektion nicht gelernt

Fünf Jahre nach den Ausschreitungen von Chemnitz warten Angegriffene auf den Prozessbeginn. Die Hälfte der Ermittlungsverfahren wurde eingestellt.

Demonstration gegen Nazis in Chemnitz

Linke Demonstration in Chemnitz am fünften Jahrestag der schweren Ausschreitungen Foto: Sebastian Willnow/dpa

Der offene Schulterschluss zwischen Mandats- und Anzugträgern der AfD, Neonazischlägertrupps und Ras­sis­t:in­nen aller Altersgruppen und Milieus, der vor genau fünf Jahren auf den Straßen von Chemnitz sichtbar wurde, hätte ein Weckruf sein müssen. Es hätte ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss eingesetzt werden müssen zur fünfjährigen Amtszeit des Präsidenten des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Hans-Georg Maaßen, und den verlorenen Jahren im Kampf gegen neonazistischen Terror.

Es hätte verbesserten Schutz der rechtsstaatlichen Institutionen geben müssen vor Rassisten und AfD-Funktionären in den eigenen Reihen. Es hätte endlich ein humanitäres Bleiberecht für Betroffene rassistischer Gewalt ohne festen Aufenthaltsstatus verankert werden müssen, auch um ein Zeichen gegen die Tä­te­r:in­nen zu setzen. Und es hätte eine konsequente Strafverfolgung geben müssen.

Zur Erinnerung: Ende August, Anfang September 2018 verwandelten Hunderte Neonazis, darunter auch der spätere Mörder von Walter Lübcke sowie Mitglieder der Terrorgruppe „Revolution Chemnitz“, die Stadt in eine Gefahrenzone für alle, die den Feindbildern der extremen Rechten entsprechen. Zu den ersten bekannten Opfern gehörten mehrere Jugendliche of Colour: ein 18-jähriger Syrer, ein gleichaltriger Afghane und dessen 15-jährige Freundin.

Handyaufnahmen zeigen, wie eine Gruppe von neonazistischen Hooligans die beiden Männer und die Frau umstürmen, sie als „Kanaken“ und „Fotzen“ beschimpfen und auf sie einschlagen. Die Aufnahmen führten zu einem bundespolitischen Beben und schließlich zum erzwungenen Rücktritt von Maaßen. Am 7. September 2018 behauptete Maaßen gegenüber der Bild-Zeitung, es lägen „keine belastbaren Informationen darüber vor, dass solche Hetzjagden stattgefunden“ hätten.

Kretschmer und Maaßen dementierten

Bei den Videoaufnahmen des Angriffs auf die beiden Afghanen handele es sich um „eine gezielte Falschinformation“. Und Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) sekundierte in einer Regierungserklärung: „Es gab keinen Mob, es gab keine Hetzjagd, es gab keinen Pogrom in dieser Stadt.“ Diese offensichtlich politisch motivierten Beschönigungen blieben nicht folgenlos. Knapp zwölf Monate später ermordet der Neonazi Stephan Ernst den Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke.

Der Entschluss zur Tat fiel erklärtermaßen auf der Rückfahrt von der Demonstration in Chemnitz nach Hessen. Zwar hätte er mit Gesinnungsgenossen schon vor dem September 2018 darüber gesprochen, dass man bei Lübcke mal „vorbeifahren“ müsse. Nach dem Aufmarsch in Chemnitz „stand fest, dass wir das machen“. Lübcke sollte „irgendwie bestraft“ werden für „die Überfremdung“.

Auch auf die Strafverfolgung hatte die Verharmlosung erheblichen Einfluss. Für den Zeitraum vom 26. August bis zum 14. September 2018 sind im Kontext der Ereignisse in Chemnitz insgesamt 192 Ermittlungsverfahren eingeleitet worden. Über die Hälfte der Verfahren wurde eingestellt. Dazu gehören auch die Ermittlungsverfahren im Fall des Angriffs auf den 18-jährigen Afghanen und den gleichaltrigen Syrer – obwohl Polizeibeamte die Identität der Tatverdächtigen ermittelt hatten.

Bis heute nicht strafrechtlich zur Verantwortung gezogen wurden die Neonazis, die am 1. September 2018 Jagd auf antifaschistische Ge­gen­de­mons­tran­t:in­nen machten. Sie verletzten mehrere Frauen und Männer. Drei Jahre dauerte es allein bis zur Anklageerhebung gegen 19 polizeibekannte, überwiegend einschlägig vorbestrafte Neonazis. Zunächst ermittelt die Generalstaatsanwaltschaft.

Verschleppte Verfahren

Erst nach fast drei Jahren wurde dann Anklage erhoben: gegen 19 Neonazis wegen Landfriedensbruchs und gefährlicher Körperverletzung. Zum 5. Jahrestag des Angriffs warten die Verletzten noch immer auf einen erstinstanzlichen Prozessbeginn. Die Angegriffenen fühlen sich vom Rechtsstaat im Stich gelassen und zeigen sich überzeugt davon, dass eine konsequente Verfolgung der Neonazis von Chemnitz den Mord an Walter Lübcke möglicherweise hätte verhindern können.

Nur die angeklagten Neonazis profitieren von der langen Verfahrensdauer. So wie auch im Fall des antisemitisch motivierten Angriffs eines Dutzends Neonazis auf das koschere Restaurant „Schalom“ am 27. August 2018 in Chemnitz. Die vermummten Angreifer hatten unter anderem „Hau ab aus Deutschland, du Judensau“ gerufen, den Besitzer des Restaurants verletzt und eine Fensterscheibe zertrümmert.

Ein einziger von ihnen ist inzwischen rechtskräftig verurteilt worden: zu einer zehnmonatigen Bewährungsstrafe. Vier weitere Ermittlungsverfahren gegen organisierte Neonazis schleppen sich seit fünf Jahren hin. Zur bedrückenden Bilanz fünf Jahre nach den Ausschreitungen von Chemnitz gehört die Normalisierung von Rassismus und Antisemitismus im politischen Diskurs bei steigenden Zustimmungswerten für die AfD.

Welchen Einfluss politische Diskurse auf die Zunahme rassistischer Gewalt haben, hat Rafaela M. Dancygier, Politologin von der Princeton University, untersucht. Das Ergebnis ihrer Befragung unter 3.000 Deutschen: Ein Fünftel hält rassistische Hasskriminalität für legitim. 15 Prozent fanden rassistische Gewalt gegen Geflüchtete vertretbar, wenn dadurch weniger Flüchtlinge im Ort angesiedelt würden und um „Politikern klarzumachen, dass wir ein Flüchtlingsproblem haben“.

Im Unterschied zu den 1990er Jahren nehmen die Befürworter von rassistischer Hasskriminalität jetzt mit der Wahl von besonders radikalen AfD-Abgeordneten direkt Einfluss auf die Politik. Die Stigmatisierung, die mit dem Flüchtlingsabwehrdiskurs einhergeht, so viel ist leider absehbar, wird weiteren rassistischen Gewalttätern als Legitimation für Mord und Totschlag dienen.

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ist freie Journalistin und Geschäftsführerin des Verbands der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt e. V. Gemeinsam mit Ibrahim Arslan und Sultana Sediqi ist sie mit dem Menschenrechtspreis 2023 der Stiftung Pro Asyl ausgezeichnet worden.

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