Rechte Szene in Wurzen bei Leipzig: Rechts der Mulde
Ein Kampfsportler aus der Neonazi-Szene zieht am Dienstag in den Stadtrat von Wurzen ein. Die Rechten sind dabei, die Hegemonie zu erlangen.
Wurzen, im Mai 2019: Stadtratswahl. Für zwei der antretenden Gruppierungen ist es ein Sieg auf voller Linie: Die Neulinge AfD und „Neues Forum für Wurzen“ (NFW) ziehen erstmals in den Stadtrat ein. Die Alternative für Deutschland mit 15,7 Prozent der Stimmen. Die freie Liste des NFW mit 11 Prozent. Vier Sitze wird die AfD ab dem 27. August einnehmen. Drei das NFW.
Einen dieser Sitze besetzt Benjamin Brinsa, gewählt mit 359 Stimmen. Über 30.000 Treffer bekommt man, wenn man ihn bei Google sucht. Bilder von dem muskulösen Mann in Kampfpose, Videos von ihm beim Mixed-Martial-Arts-Training (MMA). Und unzählige Texte. Von linken Recherchegruppen, Online-Magazinen, Tageszeitungen. Brinsa ist bekannt – als rechter Kampfsportler und „Neonazi-Hooligan“, wie linke Seiten ihn nennen.
Benjamin Brinsa, Jahrgang 1989, ist ein gefeierter Kämpfer der rechten Freefight-Szene. Sein Spitzname: „The Hooligan“. 2013 stand er sogar unter Vertrag des weltweit größten MMA-Veranstalters Ultimate Fighting Championship. Dieser wurde allerdings, bevor Brinsa auch nur einen einzigen Kampf für die UFC absolviert hatte, gekündigt – aufgrund von Hinweisen auf Verbindungen in die rechte Szene. Heute ist er der Kopf des rechten MMA-Teams „Imperium Fight Teams.“ Einige Mitglieder des Teams waren bei dem Nazi-Angriff auf Leipzig-Connewitz 2016 dabei. Von Brinsa selbst gibt es Fotos, die ihn bei den rechten Ausschreitungen in Chemnitz 2018 zeigen.
Nun wird er Fraktionsvorsitzender des NFW. Auf Facebook triumphiert er am Tag der Wahl, gratuliert seinen Mitstreitern – und der AfD, mit der man nun „zusammen eine ordentliche Anzahl an Personen im Stadtrat sitzen“ habe. Anfang August postete er ein Foto von sich vor einer Straßenlaterne in Wurzen, ein umgedrehtes Wahlplakat in der Hand. Für welche Partei mobilisiert Brinsa? Er verrät es nicht. Heute hängt an dieser Stelle das Plakat von Jens Zaunik, dem AfD-Spitzenkandidaten.
Der Zusammenschluss nationaler Kräfte
Es ist der Zusammenschluss nationaler Kräfte, ein Triumph der Rechten in Wurzen – zumindest parlamentarisch. Die Strategie Rechter, über freie Listen in Parlamente einzuziehen, wird besonders im ländlichen Raum immer beliebter. Zusammen haben AfD und NFW mehr als doppelt so viele Stimmen wie die SPD, die Partei des Oberbürgermeisters Jörg Röglin.
Was hat der Oberbürgermeister gedacht, am Abend nach der Wahl? „Ach du Heimatland.“ Röglin seufzt, sein Blick ist aufrecht. Er ist sichtlich erschöpft. Seine hellblauen Augen wirken müde. Der 49-Jährige sitzt in seinem großen, hellen Büro im Wurzener Rathaus. Ratlos. „Wie der Stadtrat gewählt wurde, spricht seine eigene Sprache.“
Röglin erzählt davon, wie sich die Stadt um Weltoffenheit bemühe. Von Demokratieprojekten, Vereinen, der Stadtjugendarbeit. „Und jetzt kommen solche Wahlergebnisse zustande.“ Er inszeniert nachdenkliche Pausen. „Jetzt müssen Sie mir erklären, wie so was passiert. Ich kann es Ihnen nicht sagen.“
Wurzen ist eine beschauliche Stadt, knapp dreißig Kilometer östlich von Leipzig. Auf der Karte liegt sie rechts der Mulde. Domstadt, gelegen an dem Pilgerweg „Via Regia“, touristisch aufgehübscht mit sanierten historischen Altbauten.
Will man versuchen, die Frage Röglins zu beantworten, muss man sich das andere Wurzen anschauen. Die Hakenkreuze, die unsauber an Hauswände geschmiert sind. Die hohe Dichte an AfD- und NPD-Wahlplakaten. Die antisemitischen Aufkleber. Das „Zecken schlachten“-Graffito nur wenige Meter entfernt von dem Büro des Netzwerks für Demokratische Kultur. (NDK). Das ist die Sprache, die die Wahlergebnisse sprechen.
Demokratieprojekt unter Beschuss
Wer sind diese neuen Rechten? Das Wahlprogramm des Neuen Forum mit seinen achtundzwanzig kommunalpolitischen Programmpunkten liest sich wie ein Lehrwerk populistischer Demagogie. Das Forum – allen voran sein Gründer Christoph Dietel – inszeniert sich mit seinem Namen in vermeintlicher Tradition der DDR-Bürgerrechtler. Jedoch mit gefährlichen Inhalten. So werden etablierte demokratische Parteien mit der SED verglichen, eine „Drosselung der Zuwanderung aus dem Orient und Afrika“ gefordert, kolonialrassistische Stereotype verbreitet.
Sechs Wochen im Osten: Vor der Landtagswahl in Sachsen am 1. September 2019 war die taz in Dresden. Seit dem 22. Juli waren wir mit einer eigenen Redaktion vor Ort. Auch in Brandenburg und Thüringen sind bzw. waren wir vor den Landtagswahlen mit unserem #tazost-Schwerpunkt ganz nah dran – auf taz.de, bei Instagram, Facebook und Periscope. Über ihre neuesten Erlebnisse schreiben und sprechen unsere Journalist*innen im Ostblog und im Ostcast. Begleitend zur Berichterstattung gibt es taz Gespräche in Frankfurt (Oder), Dresden, Wurzen und Grimma. Alle Infos zur taz Ost finden Sie auf taz.de/ost.
Einer der Feinde des NFW ist das NDK. „Für die sind wir hier in Wurzen der Arm von der Antifa in Leipzig“, sagt die Geschäftsführerin Martina Glass kopfschüttelnd. Dabei geht es beim NDK um Bildungsprojekte, um Kultur, um Jugendarbeit – auch gegen rechts. Schon 2018 berichtete die taz über den Rassismus in Wurzen und darüber, dass Dietel eine Petition für die Streichung der Gelder für das NDK forderte – erfolglos.
Jetzt sind sie im Stadtrat. „Ich gehe davon aus, dass sie als Erstes versuchen werden, unsere Förderungen einzustellen“, sagt Glass. Seit zehn Jahren betreut sie das Demokratiezentrum. Bei einem Gesprächsversuch im letzten Jahr habe Dietel sie angeschrien. „Dass wir die Errungenschaften des weißen Mannes und seine Vaterstadt beschmutzen.“ Seitdem rede er nicht mehr mit dem NDK.
Glass lächelt, lacht fast darüber, als könne man ihn nicht ernst nehmen. Aber Dietels Parolen kommen bei den Wurzner*innen an. „Er schreit und schreit – und die Leute glauben die ganzen Lügen, die er verbreitet.“ Auch Brinsa mobilisierte für die Wahl gegen das NDK: „Schluss mit Steuergeldverschwendung an das NDK! Schluss mit linker Bevormundung!“
Zum NDK Gelände, dem großen Haus mit der graubraunen Fassade und den alten Holztüren, den weiträumigen, offenen Büros und gemütlichen Garten, gehört auch das Kultur- und Bürgerzentrum D5. Es ist das Projekt, für das das NDK kommunale Förderung erhält. Der Dorn im Auge der Rechten. Majestätisch gelegen neben Dom und Schloss. Viele Leute gehen an diesem Sommertag im August ein und aus, das NDK ist ein Ort der Zusammenkunft.
Es könnte fast idyllisch sein, wenige Tage vor der konstituierenden Stadtratssitzung. Wären da nicht die eingeschlagenen Fensterscheiben und schlaff hängenden abgerissenen Kabel, die über der Eingangstür herausragen. „Ich habe das Gefühl, dass die Angriffe anfangen, sich zu häufen.“ Glass sitzt auf einer der Holzbänke im Garten des NDK, auf dem die Mitarbeitenden sich zum Mittagessen treffen, an diesem ruhigen Tag in Wurzen. Angst hat sie nicht, sagt sie. Besorgt sei sie schon.
Schon zwei Anschläge dieses Jahr
Erst vor wenigen Tagen, in der Nacht vom zweiten auf den dritten August, gab es einen Anschlag auf das Kultur- und Bürger*innenzentrum D5. Schon wieder. Der letzte Angriff liegt erst drei Monate zurück. Von beiden Attacken gibt es Aufnahmen einer Überwachungskamera. Die taz konnte die Videos sichten.
Der erste Angriff, im 12. Mai 2019, geschah mitten am Tag: Der Zeitstempel zeigt 17:13 Uhr. Fünf schwarz gekleidete Personen sammeln sich vor dem Grundstück. Zwei Autos fahren vor. Weitere Personen kommen zur Gruppe, ein paar von ihnen setzen sich auf die kleine Grundstücksmauer. Das Treffen wirkt geplant. Plötzlich rennt einer von ihnen auf die Wiese vor dem Haus, wirft einen Gegenstand. Glasscherben zerbrechen – vermutlich eine Flasche. Weitere Männer tun es ihm gleich. Alle tragen Kapuzen. Bis auf einen, ein nicht allzu großer junger Mann mit schwarzer Sonnenbrille. Er sieht die Kamera, setzt sich die Kapuze auf, schnellt mit seinem Arm hervor und reißt die Kamera raus. Das Bild bricht ab, die andere Kamera filmt weiter. Binnen Sekunden ziehen alle Angreifer ab und rennen davon.
Das Video vom zweiten Angriff, aufgenommen in der Nacht zum 3. August 2019, zeigt den Hintereingang des Hauses. Drei vermummte, schwarz gekleidete Männer schleichen eine Treppe hoch. Dann geht alles ganz schnell: Sie werfen etwas Unerkennbares und verschwinden. Am nächsten Tag wird Geschäftsführerin Martina Glass eine eingeschlagene Scheibe und einen Stein vorfinden.
Nach dem ersten Angriff schreibt das NDK: Es waren Neonazis, die von einem Fußballspiel des ATSV Wurzen gegen den Roten Stern Leipzig kamen. Der Journalist Sören Kohlhuber schreibt auf seinem Blog, unter den Rechten bei dem Fußballspiel sei Toni Bierstedt gewesen, Listenkandidat der Bürgerinitative Neues Forum für Wurzen.
Besagter Bierstedt fiel schon am 20. Januar 2018 in Wurzen auf: Das Antifa-Bündnis „Irgendwo in Deutschland“ zieht mit einer Demonstration durch die Stadt. Es gibt ein Foto von diesem Tag, da ist Bierstedt unter einer Gruppe Männern mit einem Teleskopschlagstock zu sehen. Daneben: Benjamin Brinsa, ebenfalls mit Schlagstock.
Auf Belltower News, dem Informationsportal der Amadeu-Antonio-Stiftung, heißt es über den Vorfall, „schwer bewaffnete Neonazis wollten in Wurzen Journalist*innen und eine linke Kundgebung angreifen“. Kohlhuber war unter den Berichtenden. Er schreibt: „Eine Person zog dabei die Klinge symbolisch am eigenen Hals entlang und deutete anschließend mit dieser in Richtung der Journalisten.“
Die Staatsanwaltschaft ermittelt wegen des Angriffs. Am 22. 2. 2019 wird das Verfahren eingestellt. Begründung: Es habe keinen hinreichenden Verdacht für Straftaten gegeben. Staatsanwalt Ricardo Schulz erklärte gegenüber der taz: „Durch Polizei und Staatsanwaltschaft war nicht zu klären, durch wen, wann und wo die Bilder aufgenommen worden sind und ob es sich bei dem einen Gegenstand, den eine vermummte Person mit sich führt, tatsächlich um eine Waffe handelt.“
Auch hinter den beiden Angriffen auf das NDK werden Rechte vermutet: In einem Artikel auf Belltower News über den ersten Angriff im Mai heißt es, „Mitarbeiter*innen des NDK und weitere Szene-Beobachter*innen“ vermuten hinter der Attacke die „808 Crew“, eine neue freie Kameradschaft der Region. Nach dem zweiten Angriff schreibt das NDK: Es waren drei mutmaßlich rechtsextremistische Personen.
Eine Hooligangruppe wie die „Terror Crew Muldental“
Es gibt Chatprotokolle von Mitgliedern der „808 Crew“, vom 20. Dezember 2018, die der taz vorliegen. Darin heißt es: „Bei 808 ging es von afnang an eine stabile junhs truppe zu machen vor der man angst und respekt hat“ (sic!). Man wolle eine „hooligan Gruppe“ wie die „Terror Crew Muldental“ aufbauen – eine rechte Jugendgruppe, die zwischen 2008 und 2012 in der Region rund um Wurzen aktiv war und gegen die der Verfassungsschutz 2011 wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung ermittelte. Und es gibt Fotos. Eins zeigt ein „808“-Mitglied beim Zeigen des Hitlergrußes. Ein anderes zeigt ein paar Jungs von „808“ mit dem „Imperium Fight Team“, dem Kampfsportteam von Benjamin Brinsa.
Heute sagt Martina Glass: „Wir haben eine Vermutung, aber wir dürfen aus ermittlungstechnischen Gründen nichts sagen.“ Die Polizei und die Staatsanwaltschaft sagen das Gleiche.
„Das Kernproblem, was wir haben, ist eine Justiz, die der Sache nicht wirklich Herr wird“, sagt der Oberbürgermeister, wenn man ihn fragt, wie die Rechten sich in Wurzen so ausbreiten konnten. Röglin ist kein Linker. Er ist ein Sozialdemokrat, der Rechtsstaat seine Religion, die Gesetze seine Bibel. Seine Worte sind deutlich. Kann er sich erklären, dass das Verfahren gegen die Angreifer vom Januar 2018 eingestellt wurde? „Ich?“ Röglin lacht. „Nee. Da müssen sie mal den Justizminister fragen.“
Was Röglin meint: Das klaffende Loch zwischen der Anzahl polizeilich erfasster Straftaten in Wurzen und der Verurteilungen durch die Justiz.
Geringe Aufklärungsquoten rechter Straftaten
Die Gruppe „Rassismus tötet!“ aus Leipzig hat eine Chronik rechter Aktivitäten in Wurzen von Juli 2017 bis heute veröffentlicht. 2018 waren es mindestens 45 rechte Straftaten, darunter 12 Körperverletzungen, zum Teil schwere, wie der Angriff auf eine schwangere Frau aus Eritrea im März 2018. Für keine einzige dieser Straftaten gibt es ein Urteil, die meisten Verfahren wurden eingestellt. Auch die Statistiken aus den Kleinen Anfragen der Abgeordneten Kerstin Köditz (Linke) belegen: Nur die wenigsten rechten Straf- und Gewalttaten in Wurzen werden von der Justiz bestraft. Die Aufklärungsquoten sind verschwindend gering.
Jens Kretzschmar kennt das Problem. Zu lange schon macht er in Wurzen Politik, als dass er die rechten Umtriebe ausblenden könnte. 1999 war er einer der Jugendlichen, die das NDK gründeten. Heute ist er älter, ruhiger. Ein netter Mann, der viel lächelt und sich etwas Lausbubenhaftes bewahrt hat. Auch er sitzt im Stadtrat. Für die Linke tritt er nun zur Landtagswahl an.
Nach dem ersten Angriff auf das NDK im Mai war er es, der die Polizei anrief. Er erzählt, wie die Beamten kamen. Wie sie Fotos von auf dem Boden liegenden Scherben und der demolierten Überwachungskamera machten. Und wie sie die Kamera, die wie das Video zeigt mit bloßer Hand runtergerissen wurde, liegen ließen. „Ich habe die Beamten mehrfach darauf hingewiesen, dass da Fingerabdrücke drauf sind.“ Kretzschmar sagt kopfschüttelnd: „Wochen später rief die Kripo an: Herr Kretzschmar wir haben gehört, dass das Beweismittel noch bei Ihnen ist.“ Polizei und Staatsanwaltschaft geben wegen laufender Ermittlungen keine Auskunft dazu.
Muss die sächsische Justiz härter gegen die Rechten durchgreifen? „Die sächsische Justiz müsste überhaupt mal durchgreifen“, sagt Röglin. Er spricht aufgebrachter als zuvor. Es geht auch um das Image seiner Stadt. „Solange sich diese extremistischen Strukturen egal welcher Couleur entfalten können und es passiert nichts, machen die weiter. Das ist wie mit den Kindern. Die testen ihre Grenzen aus und schauen, wie weit sie sie verschieben können. Und irgendwann tanzen sie uns auf der Nase rum.“
Die Rechten breiten sich aus
Wenn man mit Jens Kretzschmar durch Wurzen fährt, zeigt er einem die Schauplätze des Kampfes der Rechten um Hegemonie, wie eine Chronik, in der Jahr für Jahr Neues dazu kommt. Ein Haus, das in den Neunzigern von Neonazis angegriffen wurde. Die Autowerkstatt, aus der Brinsa und Co. bei dem Angriff auf Journalist*innen im Januar 2018 rausgestürmt sein sollen. Ein Tattoostudio. Ein Sonnenstudio. Die Bar Napoles, über die eine ängstliche Nachbarin sagt, sie wolle sich nicht äußern, habe aber auch schon gehört, dass die Betreiber Rechte seien. All diese Geschäfte seien in den Händen der rechten Szene, sagt Kretzschmar.
Läuft man vom Rathaus zum Bahnhof, passiert man eine weitere Immobilie, an einer großen Durchfahrtstraße, nur unweit der Gleise. Im Mai ging von einem unbekannten Absender aus Wurzen eine Nachricht rum, die der taz vorliegt: „Gebäudekomplex Dresdener Strasse 40 in Wurzen hat für eine halbe Million den Besitzer gewechselt. Das Grundstück beinhaltet Spielothek, Pension, Konzerthalle, Bar und Diskothek, ca. 16.000 Quadratmeter Freifläche und riesige Lagerhallen. Käufer sind Benjamin Brinsa (Stadtratskandidat Neues Forum Wurzen), Michael Beresan, Aws Sitto, Thorsten Richter.“
In Wurzen erzählt man sich, Brinsa wolle dort ein Fitnessstudio eröffnen, vielleicht sogar Freefight-Kämpfe abhalten. Es gibt viele Indizien und viele Menschen, die behaupten, etwas zu wissen. Dass es ein Mietkauf gewesen sein, für 5.000 Euro im Monat. Dass das Datum der notariellen Beglaubigung der 22. Mai gewesen sei.
Eindeutig belegen lässt sich das nicht. Im Grundbuch ist ein anderer Besitzer eingetragen. Eine Sprecherin des Amtsgerichts sagt, es könne dauern, bis sich solche Eintragungen ändern.
Im Netz kursiert ein Foto von Benjamin Brinsa, wie er auf einer Bühne bei einem Konzert der rechtsextremen Band „Kategorie C“ steht. Entstanden ist es Mitte August. Auf Twitter wird gemutmaßt, das Konzert sei im ehemaligen „Puls“ Club gewesen. Adresse: Dresdener Straße 40, Wurzen.
Die Polizei sagt gegenüber der taz, sie habe zwar nichts von einem Auftritt der Band gewusst. „Aber es ist aufgrund der Bilder davon auszugehen, dass es stimmt“, so Sprecher Alexander Bertram. Man wisse es nicht zu hundert Prozent – aber auch die Ermittler gingen davon aus, dass das Konzert von Kategorie C mit Benjamin Brinsa auf der Bühne im Gebäude des ehemaligen Puls Club war. „Der Veranstalter wird das schon so gestrickt haben, dass wir davon nichts erfahren.“
Auch dieser Auftritt ist nicht eindeutig belegbar.
Was jedoch klar ist: Von der taz wurde Benjamin Brinsa vor dem Gelände der Dresdener Straße 40 gesehen.
Die Ohnmacht der Demokratie
Wenn man den Bürgermeister nach dem Kampfsportler fragt, zeigt sich die Machtlosigkeit der Stadt über die rechten Umtriebe. „Solange er sich nichts zuschulden kommen lässt oder unsere Justiz ihm nichts nachweisen kann oder will, kann ich mit meinem Demokratieprojekt strampeln, bis aus der Milch Quark wird.“ Röglin seufzt. „Da habe ich keine Chance.“
Wenige Meter zu Fuß von den glatt polierten Kopfsteinstraßen der Altstadt liegt die Karl-Marx-Straße. Vergangenes Wochenende hat es hier eine Schlägerei gegeben. Der Linken-Politiker Kretzschmar erzählt: Ein Mann habe „Scheiß Nazis, Scheiß Nazis“ gerufen. „Dann sind sie auf ihn drauf. Einer hat sich draufgesetzt und immer wieder reingedroschen, reingedroschen.“ Er wiederholt das Wort, irgendwo zwischen Fassungslosigkeit und Gewohnheit.
Hat Jens Kretzschmar Angst? „Nee, die hätte ich erst, wenn sie die absolute Mehrheit haben.“ Er lächelt. Der Politiker ist mitten im Landtagswahlkampf. „Allmählich verschwinden meine Plakate in Wurzen.“ Er deutet auf ein Großplakat auf einer Wiese: „Das haben sie letztens versucht abzubrennen.“ Kretzschmar bleibt unbeirrt. Sein Auto hat einen Sprung in der Scheibe. „Lohnt nicht, das zu reparieren“, sagt er. „Die werfen da sowieso immer wieder was drauf.“
Was bleibt für Wurzen übrig?
2018 hieß es in der taz, es gebe nicht viel zu sehen in Wurzen. In der Stadt, „wo eine rechtspopulistische Minderheit den Rest der Stadt vor sich her treibt und den öffentlichen Diskurs übernimmt. Wo diejenigen, die dagegen protestieren, an den Rand gedrängt werden. Wo die Mitte verstummt.“
Heute, nur ein Jahr danach, ist die Minderheit keine Minderheit mehr. Im Stadtrat ernten die rechten Demagogen die Früchte ihrer Hetze.
„Was soll ich denn dazu sagen? Was soll ich tun?“ Es sind rhetorische Fragen, die der Bürgermeister stellt. Für ihn sind die Entwicklungen keine Wurzener Spezifika. „Wenn sich der Freistaat so entwickelt, was bleibt dann für so eine sächsische Kleinstadt wie Wurzen übrig?“
Für Dienstag, 27. August, den Tag, an dem der neu zusammengesetzte Stadtrat das erste Mal tagt, sind Proteste angekündigt. Es ist das gleiche bundesweite antifaschistische Bündnis wie schon im Januar 2018. Auch von rechter Seite wird mobilisiert – gegen die antifaschistische Demo.
Als im September 2017 Linke in Wurzen demonstrierten, waren es 350 Antifas, umzingelt von einem Großaufgebot der Polizei, inklusive SEK und Wasserwerfer. Ein Monat nach der Demonstration wurde gegen einen der dort anwesenden SEK-Beamten Disziplinarstrafe verhängt – wegen eines Verstoßes gegen die sogenannte Polizeidienstkleidungsordnung. Der Beamte hatte einen Aufnäher mit einem bei der extremen Rechten beliebten Symbol an seiner Uniform getragen.
Für diesen Dienstag wird kein SEK-Einsatz erwartet, die Stimmung bei Stadt und Demo-Anmelder*innen wirkt ruhiger, man rechnet mit etwa 50 Personen. Angemeldet hat die Demonstration die Linken-Politikerin Juliane Nagel aus Leipzig.
Auch ein Teil der Organisator*innen kommt aus dem nahe gelegenen Leipzig. Sie wollen anonym bleiben, zu groß sei die Angst vor Repressionen und Nazis. Warum schon wieder Wurzen? „Es ist wichtig zu thematisieren, was es für eine Region bedeutet, wenn sich Nazis so eine Infrastruktur schaffen“, sagt Sven* (Name geändert) für das Bündnis. „Infrastruktur baut Szene auf.“
Röglin sagt: „Die Antifa wird hier durch die Stadt ziehen und den Wurznern wahrscheinlich in die Fenster schreien, dass hier ein Nazi in den Stadtrat eingezogen ist. Und dann setzen sie sich in die S-Bahn und fahren wieder zurück.“
Kretztschmar sagt, es müsse immer antifaschistischen Widerstand geben. Aber man müsse schauen, welche Formen zielführend seien.
Glass sagt, antifaschistischer Protest müsse auch aus der Stadt selbst kommen.
Alle drei sagen, es gebe viele Aktive in Wurzen, die sich gegen die Rechten stellen.
Zu reichen scheint es nicht.
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