Rechte „Red Pill“-Cyberkultur: Codewort für Hass gegen Frauen
Im Internet verabreichen Männer anderen Männern symbolische Pillen, um ihnen so einzutrichtern, sie würden von Frauen unterdrückt. Die Bewegung wächst auch in Deutschland.
Protagonist Neo wird in einer Schlüsselszene des Science-Fiction-Films „Matrix“ vor die Wahl gestellt, eine blaue oder eine rote Pille zu schlucken. Wählt er die blaue Pille, lebt er weiter wie bisher, aber in Lüge. Wenn er sich für die rote Pille entscheidet, wird er aufwachen und die Wahrheit erkennen. Im Film entscheidet sich Neo für die rote Pille.
Angelehnt an diese Szene hat sich eine Cyberkultur im Internet entwickelt, der mehrheitlich Männer angehören. Sie wollen anderen Männern symbolische Pillen verabreichen und ihnen auf diese Weise eintrichtern, sie würden von Frauen unterdrückt. In sozialen Medien, mit Memes und über Foren erreichen sie zum Teil Millionen. Männer wie Andrew Tate oder Karl Ess zählen zu den bekanntesten dieser global vernetzten Szene. Auch die Attentäter von Halle, Hanau, Buffalo und Oslo identifizierten sich mit der dahinterstehenden Ideologie. Sie erwähnten sie an zentralen Stellen in ihren Manifesten oder im Livestream, während sie töteten.
Sexismus und männliche Herrschaft durchziehen nach wie vor Alltag, Politik und Beziehungen. Jede dritte Frau in Deutschland wird in ihrem Leben Opfer physischer oder sexualisierter Gewalt. Vier von fünf Tatverdächtigen partnerschaftlicher Gewalt sind Männer. Die Leipziger Autoritarismusstudie 2022 bescheinigt zudem einem Drittel der Männer ein geschlossen antifeministisches und sexistisches Weltbild – Tendenz steigend. Männer, die der Cyber-Pillenkultur angehören, ignorieren diese Realität.
Brigitte Temel forscht am Wiener Institut für Konfliktforschung zu Incels und der sogenannten Mannosphäre. Incels sind unfreiwillig sexlose, zumeist frauenhassende Männer. Die Mannosphäre bezeichnet antifeministische Männerbünde im Netz. Die Wissenschaftlerin ist besorgt: „Die Räume der Mannosphäre sind nicht mehr abgetrennt.“ In sozialen Medien erreichen sie viele. So sickern auch ihre Ideen durch, sagt Temel. Die Politik müsse Antifeminismus ernster nehmen. Denn: „Diese Leute verschieben Debatten – spätestens, wenn sie bei Tiktok, Instagram oder Youtube geklickt werden.“
Inzwischen bezeichnen sich nicht mehr nur wütende Antifeministen als „pilled“. Konservative bis stramm Rechte rechnen sich der „Red Pill“ zu, um sich als Gegensatz zum Mainstream zu inszenieren. Fox News bezeichnete etwa Kanye West als „red-pilled“. Auch Elon Musk twitterte: „Take the red pill.“ Und der bekannte US-amerikanische Rechtsextremist David Duke bescheinigte Donald Trump, er verabreiche der Bevölkerung rote Pillen, als der damalige Präsidentschaftskandidat ein Foto von Hillary Clinton mit einem Davidstern postete und sie als korrupt verunglimpfte. Der Begriff hält für verschiedenste Verschwörungsideologien her, schafft Verbindungen zwischen ihnen. Auch manche Jugendliche nutzen den Begriff „pilled“ sein, wenn sie etwas begeistert.
Die Cyberkultur hat sich mittlerweile über die rote und blaue Pille hinweg erweitert und auch den deutschsprachigen Raum längst erreicht.
Die rote Pille
Sogenannte Red-Piller wähnen sich in einem Kampf der Geschlechter. Sie glauben, der Feminismus dominiere die Gesellschaft und unterdrücke Männer. Aufgrund angeblich biologisch feststehender Geschlechterrollen seien Frauen darauf programmiert, auf dominante Muskelprotze zu stehen, die sie unterdrücken. Nur Männer mit hohem Status hätten angeblich Erfolg beim Dating. Diesen könnten sie etwa durch Aussehen, Karriere oder heteronormativen Sex erreichen. Mithilfe von Coachings, Flirttechniken und Selbstoptimierung versuchen die Red-Piller zum „Alpha-Mann“ oder auch „Chad“ aufzusteigen.
„Die Red Pill bietet ein Erweckungserlebnis, das Gefühl, es verstanden zu haben“, sagt Temel. In den Echokammern der Szene gebe es kaum abweichende Meinungen. „Diese Männer verbringen ewig dort, ihre Ansichten verhärten sich.“ Dort grassiere auch Rassismus und Antisemitismus. Die Ideologie sei anschlussfähig an Rechtsextremismus.
Vertreter der deutschen Szene tummeln sich, neben den eigenen Foren, heute vor allem auf Youtube, Instagram und Tiktok. Dort vermarkten sie sich als Männlichkeits-, Dating- oder Businesscoaches. Einem bekannten deutschen Red-Piller und Businesscoach, Karl Ess, folgen auf Instagram über 400.000 Menschen. Das größte deutsche Forum der Pick-up-Szene mit Red-Pill-Inhalten zählt 180.000.
Die blaue Pille
Wer nichts von den Pills wissen will oder sich von ihnen und ihren Ideologien distanziert, wird von den Szenen häufig als „Blue Piller“ oder auch als „Normie“ beschimpft. „Blue Piller“ streben Gleichberechtigung an, hinterfragen Rollenbilder oder zeigen schlicht ein Mindestmaß an Respekt gegenüber Frauen. Die blaue Pille ist meist eine Fremdbezeichnung. „Das ganze Selbstbild der Szene basiert auf der Abgrenzung zur Blue Pill“, sagt Konfliktforscherin Temel.
Für das Dasein als Blue-Piller haben die anderen Pills zwei Erklärungen: Entweder seien „Normies“ komplett vom Feminismus indoktriniert oder solche „Adonisse“, „Alphas“ oder „Giga-Chads“, also so gutaussehend, dass ihnen im Leben alles zufliege.
Die lila Pille
Die lila Pille liegt zwischen Blau und Rot. „Purple Pill“-Anhänger postulieren, einen unideologischen Diskurs zu pflegen, der offen Argumente prüfe. Brigitte Temel weist auf die Unterschiedlichkeit innerhalb der Purple-Pill-Kultur hin. Teilweise verstünden sich ihre Mitglieder gar als links oder feministisch, andere wiederum als antifeministisch. Es sei unklar, ob die Purple Pill dazu beitrage, biologistische Rollenbilder – also vermeintlich durch Biologie festgeschriebene Geschlechterrollen – zu verfestigen oder doch helfe, radikalere Positionen aufzuweichen.
Der lila Pille lässt sich ein deutschsprachiges Forum mit annähernd 1.000 Mitgliedern zuordnen. Es enthält auch White- und Pink-Pill-Inhalte, auf die im weiteren Text eingegangen wird.
Die schwarze Pille
Wer black-pilled ist, ist meist Incel – involuntarily celibate – unfreiwillig enthaltsam. Diese Männer hatten noch nie Sex und sind deswegen frustriert und wütend. Zwar gibt es auch unter den anderen Pills Incels. Die sind aber zumindest „optimistisch“, dass Männer sich trotz ihrer angeblichen Benachteiligung durchsetzen können. Black-Piller glauben jedoch – wenn überhaupt – nur noch an Schönheits-OPs.
Wer der schwarzen Pille angehört, sieht sich als „Beta-Mann“. Das ist das Gegenteil der dominanten „Alphas“ oder „Chads“. Sie halten sich für bemitleidenswert und sehen keinen Ausweg aus ihrer Lage. In Foren fantasieren sie von Gewalt. Manche realisieren sie dann auch, so etwa in den USA. 2014 tötete ein Mann beim ersten bekannten Incel-Amoklauf in Isla Vista, Kalifornien, sechs Menschen und verletzte vierzehn weitere. Einen weiteren Täter verurteilte ein Gericht für zehn Morde und sechzehn versuchte Morde; er war 2018 in Toronto mit einem Auto in eine Menschenmenge gefahren. Die Täter werden in den Foren für ihre „Incel Rebellion“ gefeiert, mit der sie „Chads“, „Normies“ und vor allem Frauen unterwerfen wollen. Wer viele Menschen umbringt, wird zur Legende; wer wenige oder niemanden tötet, bleibt Versager.
Der Großteil der Incels glorifiziert die Taten und ermutigt dazu, wird jedoch nicht selbst zum Terroristen. „Black-Piller zeichnen sich vor allem durch Hoffnungslosigkeit und Frauenhass aus“, sagt Brigitte Temel. Daraus resultiere Gewalt gegen sich selbst und andere. Sie seien stark indoktriniert und hätten ein gefestigt-negatives Selbstbild. Bekannte Phrasen in den Foren sind „lay down and rot“ – hinlegen und verrotten – und „cope or rope“, also „komm klar oder erhäng dich“. Teils ermutigen Incels sich untereinander zum Suizid.
In einer Umfrage im größten englischsprachigen Incel-Forum gaben 43 Prozent der Befragten an, in Europa zu leben. Eines der größten deutschen Foren für Incels und Rechtsextreme, auf dem auch das Video des Attentäters von Halle auftauchte, wurde laut der Datenanalyse-Plattform Semrush im Mai 2023 3,1-Millionen-Mal geklickt. Es zählt annähernd 30 Millionen Beiträge.
Die pinke Pille
Die pinke Pille steht für die Femcels, weibliche Incels. Männliche Incels sprechen ihnen zumeist ihren Leidensdruck ab. Die Pink-Pill-Szene tritt kaum aggressiv auf. Suizid und psychische Krankheiten thematisieren sie aber ebenfalls. Femcels prangern dabei Schönheitsnormen oder Benachteiligung von Frauen an. Sie blicken kritisch auf den Frauenhass anderer Incels.
Brigitte Temel kritisiert, dass die Aufmerksamkeit vor allem auf Red und Black Pill liege. „Dort brennt es zwar am meisten, da passieren die Anschläge“, sagt sie. Doch Frauen werde oft abgesprochen, gefährlich zu sein. Es sei nicht auszuschließen, dass auch hier Gewaltpotenzial liegt. Zudem müsse der Suizidgefahr begegnet werden. „Zur Gruppe der Femcels ist noch wenig bekannt, hier benötigt es mehr Forschung“, sagt Temel.
Die weiße Pille
Die „White Piller“ glauben mit Akzeptanz und Meditation ihr Leben verbessern zu können. Sie versuchen, sich abseits von Sex und Dating zu orientieren. Freundliche Optimisten unter den Incels sind sie deshalb aber nicht. Auch ihr Weltbild basiert auf Red- oder Black-Pill-Erzählungen, also der Lüge, dass eine frauendominierte Gesellschaft Männer unterdrücke. Nur glauben sie, mit der richtigen Einstellung diese erfundene „Unterdrückung“ ändern zu können. Die Aggressivität der roten und der Nihilismus der schwarzen Pille ist oft nur einen Klick entfernt. Die White Pill sei eine Spielart der Black Pill, sagt auch Brigitte Temel. „Black-Piller verlieren sich in Hass, während White-Piller die Stoiker oder Buddhas mimen.“
Größere deutschsprachige White-Pill-Foren oder -Kanäle, sind nicht bekannt. Ein englischsprachiger Youtuber mit White-Pill-Fokus zählt etwa 1.600 Abonnent:innen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Umfrage zu Sicherheitsgefühl
Das Problem mit den Gefühlen
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Berliner Sparliste
Erhöht doch die Einnahmen!
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag
„Freiheit“ von Angela Merkel
Die Macht hatte ihren Preis