Realitycheck für den Tatort: Dienst nach Vorschrift, bitte!
Ist es ein Ausdruck grünen Spießertums, wenn man auf die Beachtung rechtsstaatlicher Regeln beim „Tatort“ achtet? Nein, durchaus nicht.
„Dann schlag ich sie tot!“ Eine markige Aussage des Hamburger „Tatort“-Kommissars Nick Tschiller über Menschenhändler, die schutzbedürftige Mädchen bedrohen.
Um für deren Sicherheit zu sorgen, überholt der Kommissar seine Bürokratie notfalls rechts. Er selbst wird zum Gesetz und erinnert dabei an Clint Eastwoods „Dirty Harry“. Sein Ansinnen aber bleibt nicht unkommentiert. Eines der Mädchen antwortet mit einem zynischen „Toll!“ Sie ahnt, dass sie vorher sterben muss. Und der Drehbuchautor ahnt, dass er die Äußerung des Kommissars nicht unkommentiert lassen kann. Es entsteht ein Bewusstsein für das Vorgehen des Kommissars.
Um diesen Diskurs nicht jedes Mal dem Drehbuch zu überlassen, gibt es seit dem vergangenen Wochenende den Twitter-Account „Tatortwatch“, der nun im Wochenrhythmus die Folgen analysiert. Erklärend heißt es in der Twitter-Bio: „Grüne Rechts- und Innenpolitiker twittern BürgerInnenrechtsverletzungen live“. Es ist also auch ein politisches Ding.
„Wir sind Menschen, die gerne ’Tatort‘ gucken, die sich aber über bestimmte Verhaltensweisen ärgern‘“, sagt die 29-jährige Juristin Paula Riester, eine der Macherinnen. Ihre Tweets lesen sich so: „Keine Überraschung – das Seminar zur Belehrung über Zeugen- und Beschuldigtenrechte haben die Kommissar_innen wohl geschwänzt.“ Viel mehr passierte Sonntag nicht. Es fehlten ein paar Belehrungen – das war’s. Dienst nach Vorschrift.
Handelt es sich bei den „Tatort“-Watchern also um kleinkarierte Spaßbremsen, die eine noch kritteligere Partei repräsentieren? CDU-Generalsekretär Hermann Gröhe meint selbstredend, ja. Er spricht bei Twitter von einem „neuen grünen Bevormundungsprojekt“. Später legt er wenig sachgemäß noch einen drauf: „Wann starten die Grünen Menschenwatch?“ Gerade so, als wären Funkzellenabfrage, Bestandsdatenauskunft und Videoüberwachung nicht von dieser Welt.
Der Hays Code
Gröhe hat Unrecht, wenn er so tut, als wäre das, was da jedes Wochenende auf der Mattscheibe zu sehen ist, bloße Unterhaltung. Welche Bedeutung Bewegtbildern zukommen kann, offenbart ein Blick in die Geschichte Hollywoods.
Der sogenannte Hays Code hat über Jahrzehnte die Arbeitsweise der Regisseure diktiert. Leinwandehepaare durften lange nicht in einem Raum schlafen. Die Leinwand galt als moralisches Vorbild, als Absicherung des Status quo. Filmische Codes wurden zu gesellschaftlichen.
Das Argument kann man zwar nicht eins zu eins übernehmen, aber es schafft eine Vorstellung davon, wie Fernsehen Zuschauer beeinflusst. Wenn man immer wieder sieht, wie ein Polizist ohne Durchsuchungsbefehl in Wohnungen eindringt, dann nimmt man das irgendwann für bare Münze. Bei über 10 Millionen Zuschauern könnte das zum Problem werden.
Anderthalb Stunden Aktenstudium
Doch kann man in 90 Minuten überhaupt perfekten Realismus inszenieren? Nein: Niemand will einen Kommissar sehen, der anderthalb Stunden Akten wälzt. Weglassungen sind notwendiger Teil der Dramaturgie. „Tatort“-Drehbuchautor Fred Breinersdorfer umschreibt die Herausforderung so: „’Tatort‘ ist Fiktion. Aber die Filme werden vom Publikum oft als ’real‘ wahrgenommen. Deswegen müssen nicht nur die Menschenrechte, sondern auch die Prozessrechte eine Rolle spielen sowie die Sanktionen bei Nichtbeachtung.“
Die Debatte, die der grüne Twitter-Account „Tatortwatch“ angestoßen hat, ist also wichtig. Es geht dabei, anders als Hermann Gröhe meint, nicht um die völlige Normung der deutschen Serienlandschaft. Der „Tatort“ kann bleiben wie er ist, das sagen auch die Macher von „Tatortwatch“. Ihnen geht es vielmehr um das Bewusstsein für Fiktion.
In diesem Sinne ist „Tatortwatch“ eine sehr gute Idee. Oder mit den Worten David Simons, Schöpfer von „The Wire“: „Weniger Realismus ist nie gut.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestellerautor will in den Bundestag
Nukleare Drohungen
Angst ist ein lautes Gefühl
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Eine ganz normale Woche in Deutschland