Reaktionen auf İmamoğlus Festnahme: Im Würgegriff des Erdoğan-Regimes
Deutsche Politiker finden nur wenig kritische Worte zur Verhaftung İmamoğlus. Der Staatsstreich in der Türkei wirkt sich jedoch auch auf Europa aus.

L auwärmer als von Olaf Scholz, Ursula von der Leyen und Annalena Baerbock ließ sich der Protest gegen die Verhaftung des Istanbuler Oberbürgermeisters Ekrem İmamoğlu kaum formulieren: „Bedrückend für die Demokratie“, „äußerst besorgniserregend“, „Rückschlag für die Türkei“.
In Sonntagsreden wird gern das moralische Projekt Europa und der alte Kontinent als Leuchtfeuer von Demokratie und Gewaltenteilung beschworen. Im Zweifelsfall siegen dann doch die nackte Interessen- und Geopolitik. Statt den Staatsstreich einen Staatsstreich zu nennen, der das Land endgültig an den Kipppunkt zur Diktatur bugsiert, signalisierten drei wichtige Führer des Westens dem Autokraten in Ankara: Wir verurteilen Dich gemäß den diplomatischen Gepflogenheiten, mischen uns aber nicht ein.
Die staatsmännische Leisetreterei hat ihren Grund. Sie nimmt Rücksicht auf die Türkei als Schutzschild gegen die Migration aus Mittelost, als Helfer für die Neuordnung Syriens nach dem Ausfall Russlands und des Iran. Ein eingebuchteter Oberbürgermeister, so sympathisch er auch gewesen sein mag, darf diese „strategische Partnerschaft“, so der Euphemismus für die Kumpanei mit einer immer unverhohleneren Diktatur, nicht behindern.
Dieser moralischen Milchmädchenrechnung hat der Westen schon den seit 2017 inhaftierten Mäzen Osman Kavala geopfert. In der mutlosen Wortwahl von Berlin bis Brüssel spiegelt sich freilich auch die orientalistisch verzerrte Perspektive auf die muslimisch-asiatische Welt. Im Westen hält sich hartnäckig der Glaube, die „orientalische Despotie“, wie der Soziologe Karl August Wittfogel einst seinen legendären Klassiker zur politischen Staatstheorie betitelte, gehöre eben einfach zur genetischen Grundausstattung der Türkei.
Als fiele das Land, ähnlich wie Turkmenistan, Tadschikistan oder Usbekistan, mit jedem Putsch eben wieder in einen gleichsam naturgegebenen Zustand zurück, nach dem Motto: Die Türken können nicht aus ihrer asiatischen Haut heraus. Das Autoritäre steckt einfach in ihrer DNA.
Die Frage nach der Zukunft Europas
Dabei ist die Frage nach den Zuständen in und der Zukunft der Türkei, die spätestens seit der Hundertjahrfeier der 1923 gegründeten Republik gebetsmühlenhaft beschworen wird, genaugenommen die Frage nach der Zukunft Europas. Die türkische Revolution gehört zu den drei historischen Umwälzungen des 20. Jahrhunderts. Anders als die Diktaturen des Proletariats in China und der Sowjetunion orientierte sich der Kemalismus aber an den Idealen von Aufklärung und Moderne.
Den demokratischen und säkularen Rechtsstaat, samt europäischen Kleidern und lateinischem Alphabet, der jetzt unter dem islamisch-neoliberalen Würgegriff des Erdoğan-Regimes erodiert, hat das Land in Gestalt seines damaligen Staatsgründers Mustafa Kemal, seit 1934 genannt Atatürk, bekanntlich aus Europa importiert.
Mitsamt seiner giftigen Nebenwirkung allerdings: dem übersteigerten Nationalismus und seiner Wahnidee einer ethnischen Homogenität. Mag die am Bosporus auch oft genug ein besonders fanatisches Antlitz zeigen, ist sie dennoch keine asiatische Besonderheit, sondern nur das zur äußersten Fratze entstellte Spiegelbild Europas, dessen zur Kenntlichkeit gebrachte Kehrseite.
Zwar kann, wie schon 1918, die Befreiung der Türkei nur das Werk ihrer eigenen Bevölkerung sein. Doch wer glaubt, der finalen Abwicklung eines Kindes der Französischen Revolution durch einen Despoten nur achselzuckend mit rhetorischem Legalismus begegnen zu können, den dieser längst abgelegt hat, verrät sich am Ende selbst. Anders gesagt: Wenn die demokratische Türkei scheitert, scheitert auch Europa.
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