Reaktionen auf Fleischgipfel und Tönnies: Kein Schlachtermeister der Herzen
Schalke-Fans demonstrieren gegen Aufsichtsratchef Tönnies. Der Fleischskandal trifft auch Bayerns Bauern. Und die Grünen fordern eine bessere Tierhaltung.
Unter dem Motto „Schalke ist kein Schlachthof – gegen die Zerlegung unseres Vereins“ wollen die Fans aufmerksam machen auf Missstände und Fehlentwicklungen im Club und im Fleischunternehmen des Aufsichtsratsvorsitzenden Clemens Tönnies. Der 64-jährige Firmenchef ist unter starken Druck geraten, nachdem es bei Mitarbeitern seines Unternehmens in Rheda-Wiedenbrück zu massenhaften Coronavirus-Infektionen gekommen war.
Sollten mehr als 2.000 Menschen zu der Demonstration kommen, behält sich die Gelsenkirchener Polizei in Absprache mit der Stadt Maßnahmen bis hin zum Abbruch der Veranstaltung vor.
Reisen nur mit ärztlichem Attest
Im Kreis Gütersloh, zu dem der Tönnies-Fleischwerk-Standort Rheda-Wiedenbrück gehört, liegt die wichtige Kennziffer der Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner mit dem Coronavirus innerhalb der vergangenen sieben Tage weiter deutlich über der entscheidenden Marke von 50. Das geht aus den am Samstag veröffentlichten Zahlen des Robert Koch-Instituts (RKI) hervor. Der Kreis Gütersloh ist der einzige Kreis in Deutschland oberhalb dieser Marke.
Nach den jüngsten RKI-Daten gab es im Kreis Gütersloh 164,2 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner in den vergangenen sieben Tagen – nach zuvor 177,7 Fällen am Freitag. Am Dienstag betrug der Wert laut NRW-Gesundheitsministerium noch 270,2. Hintergrund ist
Nachdem bereits mehrere Bundesländer Einschränkungen für Reisende aus einem Corona-Hotspot wie dem Kreis Gütersloh auf den Weg gebracht hatten, gab es am Freitagabend eine Bund-Länder-Einigung dazu.
Die Länder werden nach dem Beschluss in den besonders betroffenen Gebieten Vorsorge treffen, dass Reisende aus einem Landkreis oder einer kreisfreien Stadt mit kumulativ mehr als 50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohnern innerhalb der letzten sieben Tage nur dann in einem Beherbergungsbetrieb untergebracht beziehungsweise ohne Quarantänemaßnahme in ein Land einreisen werden dürften, wenn sie „über ein ärztliches Zeugnis in Papier- oder digitaler Form verfügen, welches bestätigt, dass keine Anhaltspunkte für das Vorliegen einer Infektion mit dem Coronavirus Sars-CoV-2 vorhanden sind“.
Schlachtstop bei Tönnies bremst Fleischmarkt in Bayern
Der Corona-Ausbruch beim Fleischverarbeiter Tönnies macht auch bayerischen Bauern Sorgen. Vor allem der vorübergehende Stopp von Schlachtungen in den Tönnies-Standorten Kempten und Bamberg macht sich bemerkbar und führt zu einer Kettenreaktion, die bis zu den Kälberzüchtern durchschlägt.
„Die Bullen gehen zögerlicher aus den Ställen, der ganze Markt ist dadurch irgendwo gebremst“, sagte der Geschäftsführer der Allgäuer Herdebuchgesellschaft, Thomas Bechteler. Dadurch sei auch die Nachfrage nach Kälbern zur Mast im Moment eingeschränkt. Bei einem Unternehmen wie Tönnies, das enorme Mengen schlachte, habe das von einer Woche auf die andere Auswirkungen.
Ein Grund dafür, dass ein Corona-Ausbruch in Nordrhein-Westfalen Schockwellen bis nach Bayern schicken kann, sind die Strukturen mit immer größeren Schlachtbetrieben. Diese seien über Jahrzehnte gewachsen, auch durch striktere Standards, sagt Bechteler. Viele kleine Betriebe hätten geschlossen. „Wenn man das heute wieder aufbauen will, braucht man enorme Investitionen“, betonte er. „Wir beobachten zwar eine Tendenz der Betriebe in Richtung regionale Vermarktung“, aber noch existiere das „im Kopf mehr als in der Realität“.
Grüne fordern regionale Fleischerzeugung
Nach dem „Fleischgipfel“ von Bundeslandwirtschaftsministerin Julia Klöckner (CDU) und Branchenvertretern fordern Die Grünen im Bundestag eine Kehrtwende zu einer grundsätzlich neuen Tierhaltung und Fleischerzeugung in Deutschland sowie Auskunft über Soforthilfen für die infizierten Tönnies-Mitarbeiter.
„Wir brauchen eine regionale Erzeugung, Verarbeitung und Verbrauch statt industriellen Mega-Schlachtfabriken“, sagte der Grünen-Agrarexperte Friedrich Ostendorff am Samstag. Die Verantwortung für die Art und Weise, wie Tiere gehalten werden und Fleisch erzeugt wird, liege bei der Agrarministerin. Von ihr höre man „schöne Worte“, aber wenig Antworten auf Fragen.
Grünen-Fraktionschef Anton Hofreiter forderte eine verbindliche Tierhaltungs- und Herkunftskennzeichnung, wie es sie bereits für Eier gebe. Fleisch dürfe zudem nicht mehr unter dem Produktionspreis verkauft werden. Um den Umbau der Tierhaltung zu fördern, solle die Regierung einen „Tierschutzcent“ einführen.
Die FDP bezeichnete es dagegen als „falschen Weg“, Landwirte bei der Etablierung von besseren Haltungsbedingungen von einer Tierwohl-Abgabe abhängig zu machen. „Vielmehr fehlt es an marktwirtschaftlichen Impulsen, mit mehr Freiraum beim Umbau von Ställen“, sagte FDP-Fraktionsvize Frank Sitta den Funke-Zeitungen.
Klöckner will verpflichtende Abgabe für Tierwohl
Der Vorsitzende der Unionsfraktion im Bundestag, Ralph Brinkhaus (CDU), appellierte an den Einzelhandel, Werbung mit billigen Fleischprodukten zu unterlassen. „Es geht nicht, dass wir mit dem Produkt Fleisch, für das im Übrigen immer ein Tier gestorben ist, Lockvogel-Angebote zum Einkaufen machen.“
Der DGB drängt derweil die Bundesregierung, die Eckpunkte von Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) für bessere Arbeitsbedingungen in der Fleischindustrie schnellstmöglich in Gesetzesform zu bringen. „Wir brauchen schnellstmöglich ein Verbot von Werkverträgen in der Fleischindustrie und Regeln für die Unterbringung von Beschäftigten“, sagte Vorstandsmitglied Piel.
Klöckner hatte beim „Branchengespräch Fleisch“ am Freitag in Düsseldorf ihre Forderung nach einer europarechtlich verbindlichen Tierwohlabgabe für Fleischprodukte bekräftigt. Mit einem Aufpreis von 40 Cent je Kilo Fleisch im Handel solle ein Umbau der Ställe unterstützt werden.
Angesichts mehrerer Corona-Hotspots in großen Schlachtbetrieben hatte das Bundeskabinett im Mai Eckpunkte zur Verschärfung der Auflagen für die Fleischindustrie beschlossen. Dazu gehören häufigere Arbeitsschutz-Kontrollen, höhere Bußgelder und Auflagen für die Unterbringung ausländischer Arbeiter. Kern ist ein Verbot von Werkverträgen ab Januar kommenden Jahres, damit Betriebe die Verantwortung nicht länger auf Subunternehmer abwälzen können.
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