Reaktion auf Artikel in „FAZ“ und in „B.Z.“: Leichte Sprache braucht Kritik
Zur Bundestags-Wahl erscheinen viele Texte in Leichter Sprache. Das ist ungewohnt und führt zu Kritik. Wer kritisiert, sollte sich aber richtig informieren.
H ier können Sie den Text in Leichter Sprache lesen.
Leichte Sprache irritiert. Die vielen kurzen Sätze. Es gibt kaum Fremdwörter. Und wo ist der Genitiv? Gerade Menschen, die mit Sprache arbeiten, beschäftigt das. Journalisten zum Beispiel. In den vergangenen Wochen gab es gleich zweimal Kritik an Leichter Sprache. Adrian Lobe bemängelt auf faz.net den Einsatz von Leichter Sprache in Nachrichten: „Dem Leser werden wesentliche Informationen vorenthalten.“ Gunnar Schupelius schreibt in seiner B.Z.-Kolumne über das leichte Wahlprogramm der CDU/CSU: „Jeder Lehrer müsste für dieses Gestammel eine glatte Fünf in Ausdruck und Grammatik erteilen.“
Jetzt, im Wahljahr 2017, ist Leichte Sprache in Deutschland präsenter denn je. Bundesbehörden sind nach dem Bundesgleichstellungsgesetz dazu angehalten, ab 2018 sogar verpflichtet, auch in Leichter Sprache zu schreiben. Träger von Behindertenhilfen bieten zahlreiche Infos zur Bundestagswahl in Leichter Sprache an. Einige wenige Medien berichten in Leichter Sprache. Und seit letzter Woche sind mit dem der CDU/CSU fast alle Wahlprogramme der großen Parteien auch in Leichter Sprache verfügbar. Lediglich das Programm der AfD fehlt noch.
Zwar ist „Barrierefreiheit“ den meisten Menschen ein Begriff: Der „Tatort“ läuft mit Audiodeskriptionen für Blinde. Die „Tagesschau“ gibt es in Gebärdensprache für Gehörlose. Auch hier muss es noch mehr Angebote geben, trotzdem haben viele schon mal von diesen Formen der Barrierefreiheit gehört. Leichte Sprache hingegen ist bisher kaum sichtbar. Sie soll sprachliche Barrieren abbauen, damit Menschen, die sogenannte kognitive Einschränkungen haben oder kaum Deutsch verstehen, besser am öffentlichen Leben teilnehmen können.
Bundesweit sind 7,5 Millionen Erwachsene im Alter von 18 bis 64 Jahren nicht in der Lage, Texte richtig zu verstehen und richtig zu schreiben. Darunter gibt es verschiedene Lese- und Lernniveaus – manchmal ist sogar Leichte Sprache für ihre Leser zu komplex. Schon aus diesem Grund ist es unangemessen, wenn Adrian Lobe auf faz.net schreibt, Leichte Sprache in Nachrichten biete „nicht ausreichend Informationen“ und könne „Erklärungen komplexer Phänomene verzerren“.
Es stimmt zwar, Leichte Sprache reduziert oftmals Informationen. Sie ist jedoch der Versuch, überhaupt Informationen zu vermitteln. Dafür werden Inhalte auf den Punkt gebracht, um Beispiele und Erklärungen ergänzt. Hier ist Sensibilität für die Zielgruppe wichtiger als ein Festhalten an Standards. Denn Journalisten sind schließlich nicht die Zielgruppe.
In Schweden längst selbstverständlich
Die Idee der Leichten Sprache entstand Ende der 1960er-Jahre in Schweden. Dort nannten sich geistig behinderte Menschen erstmals Menschen mit Lernschwierigkeiten und forderten: Wir wollen unser Leben selbst gestalten – nicht nur Empfänger gut gemeinter Fürsorge sein. Zu dieser Bewegung gehörte auch die Feststellung, dass alltägliche Texte, wie Formulare, Packungsbeilagen oder Nachrichten, oft nicht für alle verständlich sind. „Lättläst“ („Leicht zu lesen“) heißt die schwedische Version der Leichten Sprache und ist dort längst selbstverständlich. Nach 2009 entstanden auch in Deutschland Regelwerke für Leichte Sprache etwa vom „Netzwerk Leichte Sprache“.
Krieg spielen. Die US-Armee probt im fränkischen Truppeneinsatzlager den Ernstfall. Wie es ist, als Statist im inszenierten Kriegsgebiet zu leben, lesen Sie in der taz.am wochenende vom 19./20. August. Außerdem: Der Terror ist in Spanien angekommen: Wie die Menschen in Barcelona die Anschläge erlebt haben und was diese für die Unabhängigkeitsbewegung der Katalanen bedeuten. Und eine Abrechnung: Die Wirtschaftsnobelpreisträger treffen sich in Landau. Haben sie die Ehrung verdient? Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.
B.Z.-Autor Gunnar Schupelius bezeichnet Leichte Sprache als schlechtes Deutsch. Als Beweis dafür zitiert er aus dem Wahlprogramm der CDU/CSU – verwechselt dabei aber das von 2013 mit dem von 2017. Das Zitat lautet: „Wenn die Leute mehr Lohn kriegen, sollen nicht auch die Preise steigen.“ Auch wenn Schupelius aus dem 38-seitigem Programm wohl bewusst die schlechtesten Stellen auswählt, hat er recht: Das ist keine gute Leichte Sprache.
Allerdings gibt es dutzende Übersetzungsbüros für Leichte Sprache in Deutschland. Jeder Text wird von eine Prüfgruppe, bestehend aus Menschen mit Lernschwierigkeiten, auf Verständlichkeit gelesen. Jedes Büro verfolgt eine andere Strategie bei der Übersetzung und Prüfung. Nicht jede davon ist gut. Außerdem ist es nicht leicht, in Leichte Sprache zu übersetzen. Ebenso wie es miese Synchronisationen gibt oder schreckliche Buchübersetzungen, gibt es auch schlechte Übersetzungen in Leichte Sprache.
Kritik bedeutet, ein Thema ernst zu nehmen
Dass es auch anders geht, zeigt das CDU/CSU-Wahlprogramm 2017. Es erschien nach dem B.Z.-Artikel. Von einem anderen Übersetzungsbüro übersetzt, finden sich in einer Passage über „Lohn“ grammatikalisch richtige Sätze, erklärende Beispiele und die Definitionen schwieriger Begriffe:
Ein Chef soll für die Arbeit guten Lohn bezahlen.
Das ist wichtig und richtig.
Aber:
Ein Chef bezahlt für die Arbeit noch mehr:
• für die Kranken-Kasse
• für die Renten-Kasse
• für die Arbeitslosen-Versicherung.
Das alles nennt man Lohn-Neben-Kosten.
Die Lohn-Neben-Kosten sind wichtig.
Aber sie sollen nicht zu hoch sein.
Darauf achten wir.
Normalerweise findet das Thema Inklusion in den Medien vor allem dann Aufmerksamkeit, wenn es gesetzliche Neuerungen gibt oder außergewöhnliche Menschen vorgestellt werden. Menschen, die etwas „trotz“ ihrer Behinderung geschafft haben. Die Berichterstattung ist oft heroisierend. Teil von Inklusion ist aber auch, Kritik äußern zu dürfen.
Kritik bedeutet, ein Thema ernst zu nehmen und es sichtbar zu machen. Leichte Sprache steht gerade erst am Anfang, sie braucht diese Öffentlichkeit. „Doch nur zu behaupten, Leichte Sprache ist dumm, hilft keinem weiter“, sagt Josef Ströbl von „Mensch zuerst“, der selbst eine Lernschwierigkeit hat. Wenn FAZ und B.Z. kritisch über Leichte Sprache schreiben, ist das also erstmal gut. Wer aber der Leichten Sprache Ungenauigkeiten und Vereinfachung vorwirft, sollte nicht selbst ungenau und vereinfachend sein.
Anmerkung: Christine Stöckel arbeitet beim Projekt „taz leicht“ mit.
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