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Radrennsport in der DDRDie Tour de France des Ostens

Die Friedensfahrt galt als härtestes Amateur-Radrennen der Welt. In der DDR war sie extrem beliebt. Nach deren Ende ging es trotzdem steil bergab.

Aushängeschild des DDR-Sports: Radrennfahrer Olaf Ludwig nach dem Friedensfahrt-Etappensieg im Mai 1989 in Ost-Berlin Foto: Imago/Camera 4

Berlin taz | Operetten können irren. „Jedes Jahr im Mai“, heißt ein Bühnenstück, das 1954 im Ost-Berliner Metropol-Theater uraufgeführt wurde. Es handelte von der Internationalen Friedensfahrt, dem großen Radsportereignis, das in vielen Etappen durch Polen, die Tschechoslowakei und die DDR führte. Jedes Jahr im Mai – bis ins Jahr 2006. Aber da gab es ja auch keine DDR oder ČSSR mehr.

Die realsozialistische Friedensfahrt wurde im Westen als das „härteste Amateurrennen der Welt“ bezeichnet, manchmal auch als „Tour de France des Ostens“. Die Tour de France gibt es noch, sie läuft seit diesem Samstag, und auch sie war schon einmal in Berlin gestartet – 1987 in West-Berlin.

Zu Recht wird aber an die Friedensfahrt häufiger erinnert als an die merkwürdige Episode, die Tour de France anlässlich der damals mit viel Trara inszenierten Berliner 750-Jahr-Feier am Ku'damm losgehen zu lassen. 59 Friedensfahrten gab es zwischen 1948 und 2006, in Kleinmühlingen in Sachsen-Anhalt steht ein privates Friedensfahrtmuseum, jedes Jahr wird in einigen Orten noch die „Kleine Friedensfahrt“ ausgetragen, ein Radrennen für Kinder.

Und in Prenzlauer Berg hatte jetzt die Helle Panke, das Berliner Bildungswerk der linksparteinahen Rosa-Luxemburg-Stiftung, zu einer Veranstaltung „anlässlich des 70. Jahrestages des ersten Sieges eines DDR-Radsportlers bei der Friedensfahrt“ eingeladen – zusammen mit der sozialistischen Tageszeitung nd, die aus dem SED-Zentralorgan Neues Deutschland hervorgegangen ist.

„Das Rennen hat die Leute fasziniert“

Die Friedensfahrt gehörte im Osten zu den sportlichen Höhepunkten des Jahres. „Das Rennen hat die Leute fasziniert“, sagt Jirka Grahl, Sportchef des nd. Und er fügt hinzu: „Die Friedensfahrt war auch ein politisches Ereignis.“

An der Friedensfahrt hängen unglaublich viele Erzählungen. Das wird auch bei der Veranstaltung Mitte vergangener Woche noch einmal deutlich. Viele Ostdeutsche erinnern sich, wo sie irgendwann in den 1960ern oder 1970ern standen, als die Friedensfahrer durch ihren Ort kamen.

Sie diskutieren über die eine Etappe, als in der Slowakei ein Wintereinbruch kam und die Fahrer sich mit ihren Rädern durch den Schnee kämpfen mussten. Sie tauschen sich über den Schwierigkeitsgrad der „Steilen Wand von Meerane“ aus: ein beinahe aus dem Nichts auftauchender Berg in Sachsen – 340 Meter Fahrstrecke mit 32 Metern Höhenunterschied.

Als Jirka Grahl kurz die Fanfare der Friedensfahrt einspielt und sagt, dass sie täglich im DDR-Fernsehen lief, meldet sich ein Fan. „Ich möchte das ergänzen“, sagt er, „die lief auch im Radio.“

Täve Schur und die Weltliteratur

Solche Fans erinnern sich natürlich auch an viele Namen. Gustav Adolf Schur, genannt „Täve“, ist der berühmteste. Zweimal gewann er die Fahrt, 1955 und 1959, und seine Bedeutung ist nicht nur daran zu erkennen, dass Helle Panke und nd an das Jubiläum seines ersten Sieges erinnern. Schur, inzwischen 94, langjähriger SED-Abgeordneter der Volkskammer, später Mitglied der PDS-Fraktion im Bundestag, gehört zentral zur DDR-Geschichte. Selbst in die Weltliteratur hat er es geschafft.

Der Schriftsteller Uwe Johnson hat 1961 „Das dritte Buch über Achim“ vorgelegt, einen Schlüsselroman über Schur und den Sport der DDR. „Der Staat liebte ihn, er liebte den Staat: er hatte es selbst gesagt“, heißt es da.

In der Johnson eigenen Sprache formuliert er die Frage, die bis heute über Schur, der Friedensfahrt und dem DDR-Sport hängt: „Wie erklärt von den hohen schwarzen Buchstaben auf Weiß zuckten schreiende Personen am Rand der Bahn wie genährt aus der Schriftzeile: DER SPORT IST EIN MITTEL DER SOZIALISTISCHEN ERZIEHUNG. Der faserige Rand der Zeitung, ihre verstellte Sprache. Das muß doch herauszukriegen sein.“

Der jubelnde Generalsekretär

Mehrfach endete die Friedensfahrt in Ost-Berlin. 1982 feierte sie ihr Finale am Alexanderplatz. Den 87 Fahrern aus 16 Ländern, die nach über 1.900 Kilometern ins Ziel kamen, wurde allerspätestens auf den letzten Metern klargemacht, dass man sie in die „Hauptstadt der DDR“ gelotst hatte: Vom Strausberger Platz über die Karl-Marx-Allee waren die Balkone mit Fahnen behangen, viele Menschen standen am Rand, eine Tribüne war aufgebaut für die, die sich wichtig wähnten.

Als der DDR-Fahrer Olaf Ludwig über die Ziellinie fuhr – er wurde Gesamtsieger der Tour – schwenkte das Staatsfernsehen schneller auf Staats- und Parteichef Erich Honecker, als Ludwig die Arme hochreißen konnte. Der Generalsekretär der SED gab sich als Fan.

Honecker jubelte dem Sport zu, und zwar nicht jenem von solcher Sorte, die zu oft als „nur Sport“ beschrieben wird. Die Friedensfahrt sollte bessere Werte symbolisieren. Es ging nicht um Geld, es gab keine Sponsoren, es war länderübergreifend und grenzüberquerend, und es war für den Frieden – mit der weißen Taube als Symbol.

Zur Wahrheit gehört: In der durchmilitarisierten, bis an die Zähne bewaffneten und munter Rüstungsgüter in alle möglichen Kriegsgebiete liefernden DDR gehörte die staatliche Dauerberieselung mit hohlen Phrasen der Friedenspropaganda zum Alltag wie die leeren Regale in den Kaufhallen außerhalb Ost-Berlins.

Wackeliger Mythos

Wenn man genau hinschaut, symbolisierte die Friedensfahrt so ziemlich alles, was im Ostblock geschah. Schon der Mythos von mehreren Ländern, die sich nach dem Krieg des Friedensgedankens wegen zusammentaten, steht wackelig da. 1947/48 hatten zwei Sportjournalisten unabhängig voneinander die Idee einer Etappenfahrt von Warschau nach Prag – oder umgekehrt.

Zygmunt Weiss von der polnischen KP-Zeitung Trybuna Ludu und Karel Tocl vom tschechoslowakischen KP-Organ Rudé Právo kooperierten, aber konnten sich nicht einig werden, und am 1. Mai startete in Warschau die eine Premiere, in Prag die andere. Die erste Friedensfahrt hatte zwei Sieger, zwei Gesamtwertungen, zwei Streckenführungen, zwei Zielorte.

Erst ein Jahr später gab es ein gemeinsames Rennen. 1950 war auch die DDR dabei. Sehr viel später, Mitte der 1980er Jahre, wollte auch die Sowjetunion zu den Ausrichtern gehören. Um das zu unterstreichen, wurde die Friedensfahrt 1986 in Kiew gestartet – elf Tage nach Tschernobyl und ohne westliche Teams, die alle wegen des Reaktorunglücks abgesagt hatten. Die DDR schickte wie selbstverständlich ihre Radsportler dorthin.

Aber eine sich unter Michail Gorbatschow wandelnde Sowjetunion wollten die DDR-Funktionäre trotzdem nicht in der Friedensfahrtorganisation dabei haben. Auch der Plan, 1988 in Kooperation mit der französischen KP-Zeitung L'Humanité eine Fahrt Paris-Moskau zu organisieren, wurde abgelehnt.

Sportchef mit Nachrichtenmonopol

In der DDR war es übrigens ebenfalls das Zentralorgan, das die Friedensfahrt organisierte: Der damalige Sportchef des Neuen Deutschland, Klaus Huhn, wurde zum Cheforganisator, und weil mit diesem Sportereignis auch für internationale Anerkennung des ostdeutschen Staates getrommelt wurde, nannte sich die Rundfahrt bald offiziell „La Course de la Paix“.

Huhn stellte sich als „Directeur“ und „Commissaire“ vor. Vor allem wurde er, wie Jirka Grahl sagt, zum Erzähler der Friedensfahrt: „Er hat über ein Rennen berichtet, das er selbst organisiert hat.“ Herausgekommen sind Geschichten über Sportler, die sich gegenseitig helfen, die weder Geld noch andere Gratifikation wünschen und aus vollem Herzen die von ihnen verlangten Friedensbotschaften vorlasen. „Huhn hatte das Nachrichtenmonopol.“

Nach 1990 versuchte die Friedensfahrt mit unterschiedlichen Konzepten und Sponsoren als Profirundfahrt zu überleben. Rein sportlich war das Konzept einer Dreiländertour immer noch attraktiv. Bemühungen, sie mal nach Brüssel, mal nach Hannover, mal nach Linz zu lotsen, waren trotzdem nicht erfolgreich.

Am Ende war die einst stolze Friedensfahrt „nur noch ein drittklassiges Profirennen“, wie auch Jirka Grahl sagt. Immerhin, bis zuletzt fand sie stets im Mai statt.

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