Putins Krieg in der Ukraine: Jedes Haus, jede Seele

Kein Licht, keine Heizung, kaum Lebensmittelvorräte – die Hafenstadt Mariupol wird von schwerer Artillerie, Luftwaffe und Marine beschossen.

3 Menschen schaufeln ein großes Loch als Grab, daneben eine Bahre

Mitten im Wohngebiet: Ein paar Menschen graben ein Loch für Kriegsopfer in der Hafenstadt Foto: Alexander Ermochenko/reuters

Es ist eine humanitäre Katastrophe, die sich da in der ostukrainischen Hafenstadt Mariupol abspielt. Russische Artillerie, Luftwaffe und Marine haben die Stadt weitgehend zerstört. Nach Angaben des stellvertretenden Bürgermeisters Sergei Orlow sind 90 Prozent der Gebäude betroffen. Nach Angaben von Petro Andrjuschtschenko, einem Berater des Bürgermeisters von Mariupol, sind 20.000 Menschen bei diesen Beschüssen ums Leben gekommen. Die Zahl dürfte höher sein, ist doch diese Nachricht schon eine Woche alt.

Der Kontakt zu den noch 300.000 Menschen, die in der Stadt verblieben sind, ist weitgehend abgebrochen. „Es gibt keine direkte Verbindung mehr zur Stadt“, berichtet Maxim Borodin (44), Mitglied des Stadtrates von Mariupol, der die Stadt inzwischen verlassen hat, der taz am Telefon. „Das Internet funktioniert nicht mehr, auch telefonisch kommt man nicht mehr durch. Nur ab und an kann man aus der Stadt anrufen. Die Lage ist schlimm, und sie wird von Tag zu Tag schlimmer. Nun wird Mariupol auch von Schiffen und schwerer Artillerie beschossen. Die Vorräte enden. Die Menschen hungern. Viele versuchen, die Stadt zu Fuß zu verlassen. In Mariupol kann man nicht mehr überleben. Trotzdem bleiben viele zurück. Es ist schrecklich, und es wird von Tag zu Tag schrecklicher“, so Borodin.

Der griechische Konsul zu Mariupol, Manolis Androulakis, hat bei seiner Rückkehr aus dem ukrainischen Kriegsgebiet eine bittere Bilanz gezogen. „Mariupol wird sich einreihen bei jenen Städten, die durch Krieg vollständig zerstört wurden – ob Guernica, Coventry, Aleppo, Grosny oder Leningrad“, sagte der Diplomat bei seiner Ankunft in Athen am Sonntagabend vor Journalisten. „Es gab kein Leben mehr – binnen 24 Stunden wurde die gesamte Infrastruktur zerstört. Es wurde einfach alles bombardiert.“

Androulakis war einer der letzten westlichen Diplomaten, der die Stadt verließ. Athen hatte seine diplomatischen Vertretungen noch lange nach Kriegsbeginn geöffnet gehalten, weil in der Region zahlreiche griechischstämmige Ukrainer leben, denen bei der Flucht geholfen werden sollte.

Erste Hungertote in der Stadt

Gleichzeitig berichtet Maxim Borodin vom Stadtrat Mariupol, russische Soldaten würden Zivilisten aus der Stadt gegen ihren Willen nach Russland evakuieren. Der Verwaltungschef des Gebietes Donezk, Pawlo Kirilenko, berichtet von den ersten Hungertoten in der Stadt.

Was wirklich in Mariupol los ist, lässt sich derzeit nur von Bürgern der Stadt in Erfahrung bringen, die diese inzwischen verlassen haben. „Schiwa“, schreibt Olga Demidko, eine Fernsehjournalistin aus Mariupol, auf ihrer Facebook-Seite. Doch auf dieses einzige Wort, auf Deutsch: ich lebe, antworten Hunderte. Und fast alle auf Ukrainisch. Dabei ist Mariupol eine Stadt, in der traditionell russisch gesprochen wird. Doch nun wollen auch die Überlebenden von Mariupol, die Kiew nie hatte zu einem Umstieg auf die ukrainische Sprache bewegen können, nicht mehr in der Sprache des Aggressors, wie sie es nennen, miteinander kommunizieren.

Freuen kann sich Demidko, die zu Verwandten in Deutschland weiterreisen möchte, über ihre gelungene Flucht nicht. „Meine Mutter, sie kann nicht laufen, ist zurückgeblieben. Auch meine bettlägerige Großmutter und mein Vater sind noch in Mariupol … Dort leben sie ohne Licht, Heizung, Telekommunikation, es gibt nur sehr wenig zu essen … Heute Morgen stand meine Straße in Flammen … Meine besten Freunde kann ich telefonisch nicht erreichen. Wir haben überlebt, dank unserer guten Nachbarn, die mich und meinen kleinen Jungen heute mitgenommen haben … Aber ohne meine Eltern zu leben ist das größte Problem in meinem Leben. Freunde, bitte betet für meine Familie, alle Bürger von Mariupol und ganz Mariupol!“

Ja, antwortet ihr eine Liliya Yatsenko, „wir werden beten. Jeden Tag, Auch zu meinen Eltern in Mariupol ist der Kontakt abgerissen“.

Schweigende Kinder und Bombenhagel

„Am meisten haben mir die Kinder leid getan“, berichtet die aus Mariupol stammende Bloggerin Nadeschda Suhorukowa auf Face­book. „Sie sprachen kaum miteinander. Niemand hat gesprochen. Sie haben den Flugzeugen zugehört. Sie flogen sehr nah und warfen endlos viele Bomben ab. Der Boden sackte ab, das Haus wackelte, jemand im Keller schrie vor Angst. Ich hatte Angst, mir auch nur vorzustellen, was draußen war. … Als ich am Morgen sah, was von unserem Garten übrig war, hatte ich kein Gefühl. Ich stand einfach da und sah mir das alles an und habe mir gedacht: Das ist nicht meine Stadt. …“

Irgendwann sind unsere Kellernachbarn verschwunden. Einer nach dem anderen ist gegangen, kaum dass er Benzin gefunden hatte oder Freunde mit einem freien Platz in einem Auto sich meldeten. Niemand hat sich verabschiedet, niemand hat seine Sachen gepackt. Wer ging, ließ alles stehen und liegen und rannte zum Ausgang.

Auch unsere Kellernachbarn wollten in dieser Nacht gehen. Sie wurden durch die Bombenangriffe aufgehalten. Die Flugzeuge flogen alle halbe Stunde. Ich glaube, es waren mehrere von ihnen. Denn sie warfen jeweils zwei Bomben ab. Jetzt bebte der Boden alle fünf Minuten vier, manchmal sechs Mal. Sie haben uns so stark bombardiert, als wollten sie jedes Haus, jeden Baum begraben, jede Seele in einem riesigen Krater zertrampeln.“

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