Push- und Pull-Faktoren: Eine dankbare Argumentationshilfe
Die politischen Debatten um Push- und Pull-Faktoren der Migration geben vor, diese vorhersagbar zu machen. Doch die Realität ist wie immer komplexer.
Abgehangene Klamotten, olle Theorien: Szene in der Kleiderkammer einer Asylunterkunft Foto: Lars Berg/imago
Der Deutungsversuch ist so eingängig, dass er in Deutschland quer durch die politischen Lager verfängt: Wenn Bund und Länder am Montag über die Einwanderungspolitik beraten, wird es auch darum gehen, inwieweit Sozialleistungen für Geflüchtete einen so genannten Pull-Faktor darstellen. Stimmen aus der Regierung und der Opposition werten eine ordentliche Sozialpolitik, die für alle Menschen gleichermaßen gilt, als unerwünschten Anreiz für eine Einreise von Geflüchteten nach Deutschland. Dabei ist die Betrachtung von Push- und Pull-Faktoren, also Kräften, die Menschen aus ihrer Heimat „wegdrücken“ und solchen, die sie „anziehen“, zum Verständnis von Migrationsbewegungen wenig geeignet.
Der US-amerikanische Wissenschaftler Everett Lee formulierte das Push-Pull-Modell in einer Weiterentwicklung der so genannten „Wanderungsgesetze“, die der deutsche Kartograph Ernst Ravenstein 1885 aufstellte. Im Geist der 1960er Jahre, als in dem Versuch der Soziologie eine höhere Glaubwürdigkeit zu verschaffen, alle möglichen Lebensbereiche in ökonomischen Modellen analysiert wurden, stellte Lee einen quasi-mathematischen Satz auf: In jedem Lebensbereich gäbe es „zahllose Faktoren“, die dazu beitrügen, „Menschen in dem Gebiet halten“. „Und es gibt andere, die die sie eher abstoßen.“
Lee veranschaulichte das Interpretationsschema in einem Diagramm aus zwei Inseln mit Plus- und Minus-Zeichen, die miteinander verbunden sind. Dabei schränkte der Wissenschaftler selbst ein: „Natürlich sind Plus- und Minus-Faktoren am Herkunfts- und Zielort für jeden Migranten oder potenziellen Migranten unterschiedlich definiert.“ Dieser zentrale Vorbehalt des Verfassers findet in der aktuellen politischen Debatte kaum Widerhall. Im Gegenteil: Die relative Beliebigkeit des Denkschemas eignet sich hervorragend zur Stimmungsmache.
Arbeitsmarkt, Sozialstaat, Meinungsfreiheit, eine liberale Gesellschaft, sie alle könnten Pull-Faktor für potentielle Einwanderer*innen sein. Oder wie wäre es mit: Seenotrettung, Sozialleistungen, einer Notfallversorgung beim Zahnarzt. Haben wir alles schon gehört. Was ist mit aufgeschlitzten Schlauchbooten in der Ägäis, dem Kältetod von Kurdinnen und Kurden an der belarussisch-polnischen Grenze? Sind Asylunterkünfte in Deutschland, die nicht in Brand gesetzt werden, ein Pull-Faktor?
Bitte setzen Sie hier ihren Pull-Faktor ein
Das Push- und Pull-Modell gilt in der Migrationsforschung als leere Hülle, die mit beliebigen Beispielen gefüllt werden kann. Sie sollen den Anschein erwecken, dass mit simplen Stellschrauben Fluchtbewegungen effektiv gesteuert werden können. Hier eine Geldkarte statt Bargeldzahlungen, und zack! 14 Prozent weniger Andrang an der deutschen Grenze. Dort hunderttausend Euro für die Seenotrettungsorganisation gestrichen, und schon nehmen weniger Leute die tödliche Passage über das Mittelmeer auf sich.
Das Mittelmeer ist 2,5 Millionen Quadratkilometer groß, derzeit durchkreuzen es etwa 16 private Rettungsschiffe. Dass da kaum jemand ernsthaft damit kalkuliert, im Zweifel aus den Wellen gezogen werden zu können – geschenkt. Dass kaum jemand, der für sich und zurückgebliebene Angehörige sorgen will, mit 182 Euro Taschengeld aus den Asylbewerberleistungsgesetz spekuliert, ist ebenfalls nicht wichtig. Es geht um Symbolik, um den Gedanken, dass mit einfachen Parametern Migration effektiv gesteuert werden kann. Die quasi-theoretische Untermauerung mit der Eliminierung von „Pull-Faktoren“ ist dafür essentiell.
Die Diskussion darum, Anreize zur Einreise nach Deutschland zu minimieren, ist letztendlich ähnlich gelagert wie Debatten um „Asylbetrüger und Sozialschmarotzer“ in den 90er- Jahren. Doch der Verweis auf den Denkansatz von Lee macht den den Griff nach dem alten Vokabular nicht nötig.
Bessere Erklärversuche sind leider etwas komplizierter
Wie es häufig so ist, sind die aussagekräftigeren Deutungsmuster weniger griffig, weil sie die Komplexität des Migrationsgeschehens anerkennen. Aktuelle Theorien nehmen in Blick, warum sich Menschen in Bewegung setzen, aber vor allem auch: Warum Menschen nicht fliehen (können). Weltweit gibt es mehr Menschen, die in Kriegs- und Konfliktgebieten leben, als solche, die sich auf der Flucht befinden.
Mit ökonomischen Ansätzen, wie bei Lee, ist dieser Umstand nicht zu erklären. Kriege etwa sind eben nicht der simple Push-Faktor zur Flucht, sondern auch ein Grund für die Immobilisierung von Menschen. Aktuell gilt das für die Zivilbevölkerung des Gaza-Streifens genauso wie für ukrainische Männer im wehrfähigen Alter.
Neben diesen rechtlichen Einschränkungen gibt es auch Fälle, in denen Menschen zwar emigrieren könnten, aber das Vor-Ort-Bleiben – auch unter widrigsten Umständen – bevorzugen oder schlicht erdulden; wegen ihres Alters, wegen ihrer Rolle in der Familie. Eine aktuelle Studie der Stiftung Wissenschaft und Politik setzt Migrationsbestrebungen (Aspirationen) von Menschen in Verhältnis zu ihren Möglichkeiten zur Flucht. Kosten-Nutzen-Abwägungen kommen bei Fluchtentscheidungen dagegen sehr verallgemeinernd daher, mal ganz abgesehen davon, dass der rational handelnde Akteur aus der ökonomischen Ideenwelt in Kriegs- und Konfliktsituationen noch nie gesichtet wurde.
Die Sache mit dem Rechtsstaat
Jochen Oltmer, Professor am Osnabrücker Institut für Migrationsforschung, sagt der taz: „Ohne eine kontextspezifisches Bemühen wird kein Erklärungsversuch funktionieren.“ Das gelte auch etwa für die Frage, warum denn nun im EU-Schnitt verhältnismäßig am meisten Menschen in die Bundesrepublik fliehen würden. „Wenn man individuelle Aspirationen und individuelle Fähigkeiten im Blick behält, kann man wesentlich besser erklären, wie Migration funktioniert.“ So sei etwa ein rechtsstaatliches Asylverfahren in Deutschland, trotz der Aussicht auf einen prekären Duldungsstatus, entscheidender als die Zahlung irgendwelcher Sozialleistungen.
Bliebe die Frage: Ist der Rechtsstaat nicht auch ein misslicher Pull-Faktor, der abgeschafft gehört?
Push- und Pull-Faktoren: Eine dankbare Argumentationshilfe
Die politischen Debatten um Push- und Pull-Faktoren der Migration geben vor, diese vorhersagbar zu machen. Doch die Realität ist wie immer komplexer.
Abgehangene Klamotten, olle Theorien: Szene in der Kleiderkammer einer Asylunterkunft Foto: Lars Berg/imago
Der Deutungsversuch ist so eingängig, dass er in Deutschland quer durch die politischen Lager verfängt: Wenn Bund und Länder am Montag über die Einwanderungspolitik beraten, wird es auch darum gehen, inwieweit Sozialleistungen für Geflüchtete einen so genannten Pull-Faktor darstellen. Stimmen aus der Regierung und der Opposition werten eine ordentliche Sozialpolitik, die für alle Menschen gleichermaßen gilt, als unerwünschten Anreiz für eine Einreise von Geflüchteten nach Deutschland. Dabei ist die Betrachtung von Push- und Pull-Faktoren, also Kräften, die Menschen aus ihrer Heimat „wegdrücken“ und solchen, die sie „anziehen“, zum Verständnis von Migrationsbewegungen wenig geeignet.
Der US-amerikanische Wissenschaftler Everett Lee formulierte das Push-Pull-Modell in einer Weiterentwicklung der so genannten „Wanderungsgesetze“, die der deutsche Kartograph Ernst Ravenstein 1885 aufstellte. Im Geist der 1960er Jahre, als in dem Versuch der Soziologie eine höhere Glaubwürdigkeit zu verschaffen, alle möglichen Lebensbereiche in ökonomischen Modellen analysiert wurden, stellte Lee einen quasi-mathematischen Satz auf: In jedem Lebensbereich gäbe es „zahllose Faktoren“, die dazu beitrügen, „Menschen in dem Gebiet halten“. „Und es gibt andere, die die sie eher abstoßen.“
Lee veranschaulichte das Interpretationsschema in einem Diagramm aus zwei Inseln mit Plus- und Minus-Zeichen, die miteinander verbunden sind. Dabei schränkte der Wissenschaftler selbst ein: „Natürlich sind Plus- und Minus-Faktoren am Herkunfts- und Zielort für jeden Migranten oder potenziellen Migranten unterschiedlich definiert.“ Dieser zentrale Vorbehalt des Verfassers findet in der aktuellen politischen Debatte kaum Widerhall. Im Gegenteil: Die relative Beliebigkeit des Denkschemas eignet sich hervorragend zur Stimmungsmache.
Arbeitsmarkt, Sozialstaat, Meinungsfreiheit, eine liberale Gesellschaft, sie alle könnten Pull-Faktor für potentielle Einwanderer*innen sein. Oder wie wäre es mit: Seenotrettung, Sozialleistungen, einer Notfallversorgung beim Zahnarzt. Haben wir alles schon gehört. Was ist mit aufgeschlitzten Schlauchbooten in der Ägäis, dem Kältetod von Kurdinnen und Kurden an der belarussisch-polnischen Grenze? Sind Asylunterkünfte in Deutschland, die nicht in Brand gesetzt werden, ein Pull-Faktor?
Bitte setzen Sie hier ihren Pull-Faktor ein
Das Push- und Pull-Modell gilt in der Migrationsforschung als leere Hülle, die mit beliebigen Beispielen gefüllt werden kann. Sie sollen den Anschein erwecken, dass mit simplen Stellschrauben Fluchtbewegungen effektiv gesteuert werden können. Hier eine Geldkarte statt Bargeldzahlungen, und zack! 14 Prozent weniger Andrang an der deutschen Grenze. Dort hunderttausend Euro für die Seenotrettungsorganisation gestrichen, und schon nehmen weniger Leute die tödliche Passage über das Mittelmeer auf sich.
Das Mittelmeer ist 2,5 Millionen Quadratkilometer groß, derzeit durchkreuzen es etwa 16 private Rettungsschiffe. Dass da kaum jemand ernsthaft damit kalkuliert, im Zweifel aus den Wellen gezogen werden zu können – geschenkt. Dass kaum jemand, der für sich und zurückgebliebene Angehörige sorgen will, mit 182 Euro Taschengeld aus den Asylbewerberleistungsgesetz spekuliert, ist ebenfalls nicht wichtig. Es geht um Symbolik, um den Gedanken, dass mit einfachen Parametern Migration effektiv gesteuert werden kann. Die quasi-theoretische Untermauerung mit der Eliminierung von „Pull-Faktoren“ ist dafür essentiell.
Die Diskussion darum, Anreize zur Einreise nach Deutschland zu minimieren, ist letztendlich ähnlich gelagert wie Debatten um „Asylbetrüger und Sozialschmarotzer“ in den 90er- Jahren. Doch der Verweis auf den Denkansatz von Lee macht den den Griff nach dem alten Vokabular nicht nötig.
Bessere Erklärversuche sind leider etwas komplizierter
Wie es häufig so ist, sind die aussagekräftigeren Deutungsmuster weniger griffig, weil sie die Komplexität des Migrationsgeschehens anerkennen. Aktuelle Theorien nehmen in Blick, warum sich Menschen in Bewegung setzen, aber vor allem auch: Warum Menschen nicht fliehen (können). Weltweit gibt es mehr Menschen, die in Kriegs- und Konfliktgebieten leben, als solche, die sich auf der Flucht befinden.
Mit ökonomischen Ansätzen, wie bei Lee, ist dieser Umstand nicht zu erklären. Kriege etwa sind eben nicht der simple Push-Faktor zur Flucht, sondern auch ein Grund für die Immobilisierung von Menschen. Aktuell gilt das für die Zivilbevölkerung des Gaza-Streifens genauso wie für ukrainische Männer im wehrfähigen Alter.
Neben diesen rechtlichen Einschränkungen gibt es auch Fälle, in denen Menschen zwar emigrieren könnten, aber das Vor-Ort-Bleiben – auch unter widrigsten Umständen – bevorzugen oder schlicht erdulden; wegen ihres Alters, wegen ihrer Rolle in der Familie. Eine aktuelle Studie der Stiftung Wissenschaft und Politik setzt Migrationsbestrebungen (Aspirationen) von Menschen in Verhältnis zu ihren Möglichkeiten zur Flucht. Kosten-Nutzen-Abwägungen kommen bei Fluchtentscheidungen dagegen sehr verallgemeinernd daher, mal ganz abgesehen davon, dass der rational handelnde Akteur aus der ökonomischen Ideenwelt in Kriegs- und Konfliktsituationen noch nie gesichtet wurde.
Die Sache mit dem Rechtsstaat
Jochen Oltmer, Professor am Osnabrücker Institut für Migrationsforschung, sagt der taz: „Ohne eine kontextspezifisches Bemühen wird kein Erklärungsversuch funktionieren.“ Das gelte auch etwa für die Frage, warum denn nun im EU-Schnitt verhältnismäßig am meisten Menschen in die Bundesrepublik fliehen würden. „Wenn man individuelle Aspirationen und individuelle Fähigkeiten im Blick behält, kann man wesentlich besser erklären, wie Migration funktioniert.“ So sei etwa ein rechtsstaatliches Asylverfahren in Deutschland, trotz der Aussicht auf einen prekären Duldungsstatus, entscheidender als die Zahlung irgendwelcher Sozialleistungen.
Bliebe die Frage: Ist der Rechtsstaat nicht auch ein misslicher Pull-Faktor, der abgeschafft gehört?
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Kommentar von
Cem-Odos Gueler
Parlamentsbüro
Berichtet seit 2023 als Korrespondent im Parlamentsbüro der taz unter anderem über die FDP und die Union. Studium der Sozialwissenschaften und Volkswirtschaftslehre in Köln, Moskau und London.
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