Psychologin über Tat in Idar-Oberstein: „Das sind keine besorgten Bürger“
Für Sozialpsychologin Pia Lamberty kam der Angriff des Maskenverweigerers nicht überraschend. Sie fordert eine neue Einschätzung der Bedrohungslage.
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taz: Frau Lamberty, Sie forschen zu Verschwörungsideologien. Wie sehr haben sich die Coronaproteste inzwischen radikalisiert?
Pia Lamberty: Die Proteste waren in den vergangenen Wochen weniger sichtbar. Die großen Aktionen sind ausgeblieben. Doch schon bei den Demonstrationen war die Gewalt gegenüber Gegendemonstrant:innen, Journalist:innen und Polizist:innen gegenwärtig. Im Alltag erfolgten bereits vor dem Mord Anschläge auf Impfzentren, Menschen bedürfen Personenschutz. Die ideologische Aufladung der Feindbilder schürte Gewalttätigkeit, die nun auch bei dem Mord anscheinend eine Rolle spielte.
Der Täter wollte ein Zeichen setzen?
Wie und ob sich der Täter in der Szene bewegte, wird noch recherchiert. In der verschwörungsideologischen und rechtsextremen Szene wurde die Maske zum Feindbild. In den Telegram-Kanälen, aber auch bei den Aktionen wurde die Maske zum politischen Symbol für „den Maulkorb“, „die Unterdrückung“.
War eine solche Tat wegen des Maskentragens zu erwarten?
Ja, das war zu befürchten. Aber solch eine Tat? Um 19.45 Uhr begann der Konflikt, nach 21 Uhr kommt er wieder, die Kleidung gewechselt mit einer Waffe, um zu töten. Der Täter handelte vermutlich nicht im Affekt. Das Maskentragen führt im Alltag aber immer wieder zu Auseinandersetzungen, in der Bahn, auf der Straße, im Supermarkt, auch mit körperlichen Übergriffen.
Die Corona-Protestbewegung ist äußerst heterogen. Ist in einem Spektrum die Radikalisierung besonders vorangeschritten?
Die Radikalisierung ist in der gesamten Bewegung gestiegen. Sie beeinflusst auch die Mitte der Gesellschaft. Die verschiedenen Verschwörungserzählungen werden weitergetragen. Das kennen alle, die sich kritisch zu der Bewegung äußern. Ich erlebe das auch.
„Querdenken“ arbeitet mit dem rechtsextremen Compact-Magazin zusammen. Befeuerte diese Zusammenarbeit die Enthemmungen?
Die rechtsextreme Szene, sogenannte Reichsbürger:innen und Holocaustleugnende, waren von Anbeginn Teil Bewegung. Corona ist für sie ein Vehikel, um ihre Ideologie weiter zu verbreiten, mehrheitsfähiger werden zu lassen. Die Compact hat sich zu dem Zentralorgan für Verschwörungserzählungen entwickelt.
Sind die Betreibenden der Telegram-Kanäle mitverantwortlich für den Schuss?
Sie sind mitverantwortlich für ein gesellschaftliches Klima der Bedrohung, sie schaffen den Nährboden für Gewalt, die sich gegen Impfpersonal und Virolog:innen, Presse und Polizei wie auch gegen Wissenschaftler:innen und Jüd:innen richtet.
Ist mit dem staatlichen Druck auf Nicht-Geimpfte eine weitere Eskalation wahrscheinlicher?
Wenn weitere Maßnahmen beschlossen werden, ist eine weitere Eskalation möglich. Umso notwendiger ist es, die Maßnahmen besser zu kommunizieren. Umso notwendiger ist jedoch auch, endlich das Bedrohungspotenzial zu benennen. Mir scheint, die aggressiven Reaktionen aus der Szene sind in der Politik nicht so Thema, wie es sein müsste.
Das BKA hat vor Angriffen auf Personen und Institutionen gewarnt. Wie kann dieser Bewegung entgegengewirkt werden?
Es gibt bei gesellschaftlichen Entwicklungen nicht die eine Maßnahme. Mir fehlt aber eine klare Distanzierung zu dieser Bewegung. Sie sind keine besorgten Bürger:innen. Doch dieser Minimalkonsens ist nicht gegeben. Wir brauchen auch eine genaue Erfassung der Straf- und Gewalttaten, um ein klares Handeln zu entwickeln. Im Bundestagswahlkampf ist diese bedrohliche Situation allerdings kaum Thema.
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