Psychoanalytiker über Fußballausbildung: „Der DFB muss in Therapie“
Der Psychologe Yvo Kühn attestiert dem Deutschen Fußball-Bund, mit der Ausbildung seiner Talente völlig überfordert zu sein.
taz: Herr Kühn, Sie haben mal gesagt, gruppenpsychologisch sei der Fußball vor der Aufklärung stehen geblieben.
Yvo Kühn: Wie viele Trainer wissen, wie die innere Welt eines 15-Jährigen aussieht? Man nennt diese Phase ja das Heldenzeitalter. Weiß im Fußball jemand, was das bedeutet? Auch das Wort Entwicklungspsychologie habe ich im Fußball noch nicht gehört, Bindungspsychologie noch weniger. In welchem Beziehungsgeflecht steht er, was kann ihm helfen? Dafür fehlt das grundlegende Wissen.
Uwe Harttgen, Psychologe, Leiter der DFL-Arbeitsgruppe Leistungszentren, sagt, dass in der Trainerausbildung zu wenig Wert auf das Gruppen- und Rollenverhalten gelegt wird. Geht Ihre Kritik noch weiter?
Es geht fundamental darum, zu wissen, wie eine Gruppe als Gruppe funktioniert. Als Einzelner kann ich mir leisten zu sagen: „Du bist mir unsympathisch.“ In der Gruppe muss ich mich mit dir auseinandersetzen. In der Gruppe lernst du, dass alle Teile dazugehören. Das führt dazu, dass die Leute erwachsener werden. In Fußballergruppen wird das nicht unterstützt. Darum wundert es mich auch nicht, dass sie selten funktionieren.
Das Wichtigste, sagen die meisten Trainer, sei die Mannschaftsdienlichkeit. Wenn auch nur ein Spieler geschnitten würde, sei die ganze Mannschaft schon kaputt.
Ich würde mich mit der Gruppe hinsetzen, erst mal nichts sagen und nur gucken, was passiert. Dann würde ich erleben, wie die Dynamik der Gruppe ist. Du brauchst im Fußball dringend Leute, die von solchen Phänomenen etwas verstehen, die das beobachten, formulieren und auch Interventionen entwickeln können. Die sehe ich bisher im Fußball nicht.
Wenn die Gruppe nicht funktioniert, profitiert auch der Einzelne nicht?
Ein Beispiel: Was passiert, wenn man einen verliert? Erreicht die ganze Gruppe ein Ziel, oder kommt nur ein fraktionierter Haufen irgendwo an? Diese Konflikte um das Verlieren oder als Gruppe zusammen etwas zu erreichen sind ein großes Thema.
Was ist denn für Sie Mannschaftsdienlichkeit?
Ich habe mit dem Begriff Mannschaft meine Schwierigkeit. Mannschaft ist quasi ein militärischer Begriff. Wir kommen der Sache viel näher, wenn wir die Trainingsgruppe als eine Art Treck betrachten. Aufgebrochen zu einem Ziel. Es gibt Gefahren, Verluste, es ist ein großes Abenteuer.
Der gebürtige Freiburger, der seit 2005 in Hamburg lebt, ist Psychoanalytiker und befasst sich unter anderem mit Großgruppen und psychodynamischen Prozessen in Unternehmen.
Was ist mit dem Begriff Team?
Der ist zum Vergessen. Team bedeutet die völlige Leugnung von Unterschieden und Hierarchien. Aber es gibt nun mal bessere und schlechtere Spieler. Das Wort Team verharmlost die Dynamik in einer Gruppe.
Es gibt ja Spieler wie Ihr Sohn Nic, die streben nach Verantwortung und wollen in der Gruppe ein gewichtiges Wort sprechen. Müssen das immer Alphatiere sein?
Mein Sohn freut sich am meisten darüber, wenn er gute Mitspieler hat. Mit denen er so schnell spielen kann, wie es ihm vorschwebt. Und es macht ihm Spaß, wenn er einen uralten Freund verladen kann, zum Beispiel einen guten Torwart. Das befriedigt. Das erlebt er aber nur in Mannschaften, wo die Spieler auf hohem Niveau sind. Es geht also nicht um das gewichtige Wort, es geht um das Erreichen von Zielen. Und dabei um diejenigen, die unbedingt gewinnen wollen, die der Gruppe helfen, sich durchzusetzen.
Ist es nicht so, dass die Trainer zunächst einmal wollen, dass die Spieler sich durchsetzen? Den Organismus zu gestalten ist meist nicht das Thema.
Ja, die sehen meist nur den Einzelspieler, der mehr oder weniger in der „Mannschaft“ funktioniert.
Es wird gern gesagt, Fußballer müssen eine Persönlichkeit entwickeln. Was ist denn eine positive Persönlichkeit im Fußball oder als Mensch?
Für eine sich gut entwickelnde Persönlichkeit ist zum Beispiel wichtig, dass sie nicht von krankhaftem Ehrgeiz geplagt ist, sondern sich in Gruppen hilfreich einbringt. Davon profitiert die Gruppe, die Persönlichkeit aber auch. Wenn man hilfreich sein kann, bildet sich auch Selbstbewusstsein. Es gibt aber auch Gruppenorganismen, wo die Gruppe für den Einzelnen arbeiten muss.
Ist also eine Fußballpersönlichkeit und eine Persönlichkeit im Leben das Gleiche?
Ja! Aber du wirst nicht wirksam in der Gruppe, nur weil du am lautesten „hier“ geschrien hast. So einen schiebt die Gruppe nur vor. Das ist nicht unbedingt der Stärkste. Das wissen wir ja auch aus der Politik.
Bei der Ausbildung im DFB-System muss sich ein Jugendlicher immer wieder in Gruppen durchsetzen, um in die nächste Gruppe zu gelangen. Wie groß ist aus Ihrer Sicht das Risiko, dass da viele verloren gehen, weil sie sich überfordert fühlen?
Sich überfordert zu fühlen ist nicht das Thema. Die Gefahr ist, dass die Jugendlichen in eine ungesunde Abhängigkeit von diesem System kommen. Ich war ganz beruhigt, als Nic gesagt hat, ich nehme mir meinen Freiraum. Aber im Grunde bestimmt das System, was du machst. Es ist einfach sehr diktatorisch. Es kann gesünder sein, wenn einer sagt: „Ich mache das nicht.“
Ein Verein wie RB Leipzig könnte sich doch vom DFB emanzipieren …
Die Identifikation mit dem System DFB ist hoch, die Abhängigkeit auch. Dieses System ist eine Konzentration von Macht und Besitz, die kann man nur mit der katholischen Kirche vergleichen. Sie hat Macht über ihre Gläubigen.
Die Spieler, die Karriere machen wollen, müssen sich dem unterordnen. Es sei denn, sie haben etwas Außergewöhnliches?
Es gibt im Grunde keinen anderen Weg. Man muss sich unterwerfen, im Sinne von „Friss oder stirb“. Es geht nur über die Vereine, und die Vereine sind eine Subkultur der Gesellschaft. Da wird im Kern ergebnisorientiert gedacht und nicht entwicklungsbezogen und perspektivisch. Was man aber nicht vergessen darf: Jemand entwickelt sich nur gut, wenn ein anderer an ihn glaubt. Das gilt generell für eine gute Persönlichkeitsentwicklung. Der Glaube der anderen entscheidet mit, wohin dein Weg führt.
Offenbar sind die Sportpsychologen in erster Linie Leistungsoptimierer, die oft nur sehen, was einen Spieler aktuell belasten könnte. Wenn er wieder gut spielt, ist das Thema oft erledigt. Haben Sie die Hoffnung, dass sich das ändert, oder gehört das auch zum System?
Das System ist völlig überfordert, sich Einflüssen von außen zu öffnen. Im Grunde müsste der DFB in Therapie. In den Richtlinien der Jugendmannschaften steht manchmal das Zähneputzen, doch wie die Seele der Jugendlichen gepflegt wird, findet viel zu wenig Beachtung. Eine unabhängige Qualitätskontrolle der Leistungszentren müsste die psychische Gesundheit der Jungs und Mädchen ebenso bewerten wie alle anderen Faktoren. Der DFB hat zwar gemerkt, dass Individualität wichtig ist. Aber er kriegt es nicht hin, diese zu fördern, dafür eventuell auch anders spielen zu lassen. Ich habe dem DFB angeboten, dass wir mal einen Workshop machen. Warten wir mal ab, ob das Angebot angenommen wird.
Eine Schlussfrage: Wie erleben Sie die Leistungszentren und Internate der Vereine?
Entscheidend sind für mich als Vater die Personen, mit denen in diesem Fall Nic zu tun hat. In Leipzig hat mir Ralf Rangnick in die Hand versprochen, dass er sich persönlich kümmert, dass aus Nic etwas wird, im besten Fall ein Weltklassespieler. Ich bin als Vater darauf angewiesen, weil Nic mir räumlich jetzt zu fern ist und ich kein Fußballfachmann bin. Es geht nur so, jeder Spieler braucht jemanden, der seine Stärken fördert. Und jeder Exzellenzspieler hatte eine exzellente Person an seiner Seite, die an ihn glaubte.
Interview aus: „Die Zukunft des Fußballs“, von Ralf Lorenzen und Jörg Marwedel: KJM Buchverlag 2016
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen