Prozessauftakt im Budapest-Komplex: Hanna S. ist nicht allein
In München steht eine 30-jährige Kunststudentin wegen mutmaßlicher Überfälle auf Neonazis in Budapest vor Gericht. Die Solidarität mit der Angeklagten ist groß.
In dem vor neun Jahren in Betrieb genommenen Münchner Hochsicherheitsgerichtssaal fänden aus organisatorischen Gründen alle möglichen Verfahren statt. So werde er für den Wirecard-Prozess benutzt, er selbst habe hier auch schon ein Drogendelikt verhandelt. Und der Saal habe durchaus seine Vorzüge, schwärmt der Richter: Er sei viel freundlicher und größer als selbst der größte Saal des Justizzentrums im Stadtinneren. Rund 100 Zuschauer passen in den Saal.
Hanna S., eine kleine, zierliche Frau mit brünettem Haar, ist gelernte Kommunikationsdesignerin und Schreinerin, zuletzt studierte sie an der Kunstakademie in Nürnberg. Jetzt steht die 30-Jährige hier wegen versuchten Mordes vor dem Oberlandesgericht München. Dessen zumindest beschuldigt sie der Generalbundesanwalt. Seit Mai vergangenen Jahres sitzt sie in Untersuchungshaft. Als sie den Gerichtssaal betritt, brandet Applaus auf, ein Großteil der Zuschauer springt auf, skandiert: „You are not alone!“ Die Solidarität ist groß. Auch oben vor dem Eingang läuft seit 7.30 Uhr eine Kundgebung mit Musik und Transparenten, auf denen „Wir sind alle Antifa“ steht. Oder: „Feuer und Flamme der Repression“.
Bei den Vorwürfen gegen Hanna S. geht es um Gewalttaten am Rande des „Tages der Ehre“, eines Aufmarschs von hunderten, wenn nicht tausenden Neonazis, die jeden Februar durch Budapest ziehen und den Nationalsozialismus verherrlichen. Unter „Budapest-Komplex“ werden Überfälle von mutmaßlichen Linksextremisten auf Menschen im Umfeld des Aufmarschs zusammengefasst.
Im Februar 2023 soll es fünf solche Angriffe gegeben haben, an zweien davon war Hanna S. nach Ansicht der Generalbundesanwaltschaft beteiligt. So sei sie mittags mit sechs anderen Personen im Bus einem Mann gefolgt, in dem die Gruppe aufgrund seiner militärischen Kleidung einen Rechtsextremisten vermutete. An der Zielhaltestelle angekommen, habe man den Ungarn gefragt, ob er zum „Tag der Ehre“ gehe. Dieser antwortete, dass er nicht könne, weil er arbeiten gehen müsse, aber Bekannte habe, die daran teilnähmen.
Verteidiger kritisieren „Dämonisierung“
Die Gruppe, so die Anklage, entschied daraufhin, den mutmaßlichen Neonazi zu überfallen. Einer habe ihn mit einem Teleskopschlagstock niedergeprügelt, andere, darunter Hanna S., hätten ihn so fixiert, dass er den Schlägen besser ausgesetzt gewesen sei. Nach dem etwa 30 Sekunden dauernden Angriff habe man dem Mann noch Pfefferspray ins Gesicht gesprüht und sei geflüchtet. Das Opfer hätten die Täter stark blutend liegen lassen. Es habe Schädelprellungen, diverse weitere Prellungen und massive Platzwunden am Kopf davongetragen. Die Täter hätten den Tod des Mannes billigend in Kauf genommen. Bei einem ähnlichen Angriff in der Nacht wurden ein deutsches Paar, das zum „Tag der Ehre“ nach Budapest gekommen war, verletzt.
Dass der Richter so ausführlich erklärt, warum in diesem Saal verhandelt wird, kommt freilich nicht von ungefähr. Das zeigt sich, als die beiden Verteidiger ein Eröffnungsstatement verlesen, in dem sie der Justiz massive Vorwürfe machen. Hier solle ein politischer Prozess abgehalten werden mit der Botschaft: Haltet euch von Antifaschisten fern! Die Verlegung in den an die JVA angeschlossenen Gerichtssaal, den sie als „Verhandlungszelle“ bezeichnen und mit Stammheim vergleichen, diene nur der Dämonisierung ihrer Mandantin, die zur besonders gefährlichen Straftäterin hochstilisiert werden solle. Normalerweise würde ein solcher Tatvorwurf am Amtsgericht verhandelt.
Der Vorwurf des versuchten Mordes sei zudem mit nichts belegt. Auch das Gericht hatte im Vorfeld bereits angedeutet, dass es am Ende nur um den Vorwurf der gefährlichen Körperverletzung gehen könnte. Für diesen Fall läge der Strafrahmen bei sechs Monaten bis zehn Jahren Freiheitsstrafe. Andernfalls wären es 3 bis 15 Jahre. Das Gericht hat für den Prozess 32 Termine bis 15. September angesetzt.
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