Prozess zu Neonazi-Angriff in Fretterode: Mit dem Messer gegen Journalisten
2018 attackierten Rechtsextreme zwei Journalisten in Thüringen. Nun beginnt der Prozess. Der DJV warnt vor einer „Bagatellstrafe“.
Am Ende sollen die Angreifer noch eine Kamera geklaut haben, dann fuhren sie davon. Die Opfer blieben mit einer Stichverletzung am Oberschenkel, einer blutenden Kopfwunde und Prellungen zurück, ihr Pkw war ein Totalschaden.
Der Angriff ereignete sich bereits Ende April 2018, nun – dreieinhalb Jahre später – stehen Nordulf H. und Gianluca B., 22 und 27 Jahre alt, dafür ab Dienstag vor dem Landgericht Mühlhausen. Die Attacke sorgte damals bundesweit für Entsetzen – weil sie ein Angriff auf die Pressefreiheit war, ausgeführt mit äußerster Brutalität. Vor Gericht müssen sich die beiden Rechtsextremen nun wegen Vorwürfen der gefährlichen Körperverletzung, schweren Raubs und Sachbeschädigung verantworten. Angesetzt sind elf Verhandlungstage bis Mitte Oktober.
„Tote in Kauf genommen“
Laut Rasmus Kahlen, Anwalt eines der Fotografen, verfolgt die Tat die Angegriffenen bis heute. Die Mittzwanziger aus Göttingen hätten als freie Journalisten gearbeitet, seien zur Recherche vor Ort gewesen. Einer habe diese Tätigkeit danach aufgegeben, beide seien bis heute über die Brutalität der Attacke geschockt. Für Kahlen müsste die Tat härter als angeklagt verurteilt werden: als versuchter Totschlag. „Der Schlag mit dem Schraubenschlüssel führte zu einem Schädelbruch, von dem Messerstich hätte der Betroffene auch verbluten können. Hier wurden Tote in Kauf genommen.“
Das Ermittlungsverfahren gestaltete sich dagegen zäh. Zwar konnte einer der Journalisten die Angreifer selbst auf Fotos festhalten und die Speicherkarte in einer Socke verstecken. Die Staatsanwaltschaft zweifelte aber zunächst, ob die Bilder echt sind. Dann wurde erst gegen einen anderen Verdächtigen ermittelt. Am Ende verzögerte sich der Prozessauftakt wegen des vorzeitigen Ruhestands eines Richters und der Pandemie.
Unterstützer:innen der Journalisten kritisieren zudem, dass die Angreifer nicht in U-Haft sitzen. Sie wollen zum Prozessauftakt eine Kundgebung vor dem Gericht abhalten. Auch die Thüringer Opferberatung Ezra übt Kritik: Schon zuletzt habe die Justiz Verfahren gegen Neonazis verschleppt, auch im Fall Fretterode fehle eine konsequente Strafverfolgung. „Das ist hochgefährlich und verkennt die Dimension militanter Neonazistrukturen.“
Die Staatsanwaltschaft sah dagegen bisher keine Haftgründe wie Flucht- oder Verdunklungsgefahr. Anwalt Kahlen wundert sich darüber. „Bei diesen schweren Vorwürfen drohen Haftstrafen von fünf Jahren und aufwärts. Da wäre eine U-Haft eigentlich üblich.“ Einzig Nordulf H. könnte milder davonkommen, weil er zur Tatzeit Heranwachsender war.
Einschlägig bekannt
Die Angeklagten selbst schweigen bisher zu den Vorwürfen. Aber sie sind keine Unbekannten. Nordulf H. ist der Sohn des NPD-Bundesvize Thorsten Heise, auch Gianluca B. soll zur Tatzeit auf dessen Grundstück gewohnt haben. Der 27-Jährige war früher ebenfalls für die NPD aktiv. Erst jüngst wurde er zu einer Bewährungsstrafe von einem Jahr und zwei Monaten verurteilt, weil er sich 2016 an einem Neonaziangriff auf den Leipziger Alternativstadtteil Connewitz beteiligt hatte. Thorsten Heise wiederum ist zentrale Figur der militanten rechtsextremen Szene, sein Haus ein bundesweiter Treffpunkt und Sitz eines einschlägigen Versandhandels.
Anwalt Kahlen dringt auch deshalb darauf, alle Hintergründe der Tat „komplett aufzuklären“. Auch der Deutsche Journalistenverband (DJV) verfolgt den Prozess. „Wir erwarten, dass das Gericht die Neonaziattacken als das bestraft, was sei waren: ein Angriff auf das Grundrecht der Pressefreiheit und damit auf die Verfassung“, sagt Sprecher Hendrik Zörner. „Am Ende darf es nicht zu einer Bagatellstrafe kommen, sondern zu einem gerechten Urteil.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind