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Protestieren in CoronazeitenKarlsruhe lehnt Demoverbot ab

Erstmalig in Coronazeiten hat das Bundesverfassungsgericht ein Versammlungsverbot beanstandet. Die Richter fordern die Prüfung von Einzelfällen.

Als hier noch niemand von Abständen sprach: Übungsanlage für Verkehrserziehung in Gießen Foto: Karl-Heinz Brunk

Freiburg taz | Das Bundesverfassungsgericht hat erstmals in Coronazeiten ein Versammlungsverbot beanstandet. Künftig gilt: Generelle Demonstrationsverbote ohne Prüfung des Einzelfalls sind unzulässig. Die Stadt Gießen hat die fragliche Demo inzwischen erlaubt.

Konkret ging es um mehrere Kundgebungen in Gießen, zu denen die Projektwerkstatt Saasen aufgerufen hatte. Unter dem Motto „Gesundheit stärken statt Grundrechte schwächen – Schutz vor Viren, nicht vor Menschen“ forderte die Projektwerkstatt zum Beispiel die Sperrung der Straßen vom Autoverkehr, damit Radfahrer und Fußgänger genug Abstand einhalten können. Auch die Teilnehmer der Demo sollten jeweils 10 Meter Abstand nach vorn und hinten beachten sowie 6 Meter zur Seite.

Die Stadt Gießen verbot die Demonstrationen dennoch unter Verweis auf die hessische Coronaverordnung. Öffentliche Verhaltensweisen, die geeignet seien, das Abstandsgebot von 1,5 Metern zu gefährden, seien generell untersagt. Erfahrungsgemäß würden bei Versammlungen Mindestabstände nicht eingehalten. Eilanträge gegen das Verbot hatten bei den hessischen Verwaltungsgerichten keinen Erfolg.

Dann hatte jedoch das Bundesverfassungsgericht eine einstweilige Anordnung zugunsten der Projektwerkstatt erlassen. Die Verfassungsrichter monierten, dass die Stadt von einem generellen Versammlungsverbot ausging, obwohl in der hessischen Coronaverordnung gar keine derartige Klausel enthalten war. Aber auch unabhängig vom Inhalt der jeweiligen Landesverordnung müsse über Versammlungsverbote immer „unter hinreichender Berücksichtigung der konkreten Umstände des Einzelfalls entschieden“ werden (Az.: 1 BvR 828/20).

Demonstranten sollen Mundschutz tragen

Die Stadt Gießen, die über das Verbot erneut entscheiden musste, hat die Kundgebung inzwischen gestattet. Die Versammlung sei jetzt unter Auflagen zugelassen, sagte Bürgermeister Peter Neidel (CDU). Demnach hat die Stadt die Kundgebung auf eine Stunde und die Teilnehmerzahl auf maximal 15 begrenzt. Alle müssten Mundschutz tragen und mindestens 1,5 Meter Abstand zueinander halten.

Vor der Karlsruher Intervention hatten zuletzt auch andere Gerichte Demons­trationen zugelassen

Mit der aktuellen Entscheidung setzte nicht nur das Verfassungsgericht, sondern auch Richter Stephan Harbarth ein Zeichen. Der jetzige Vizepräsident und designierte Präsident des Bundesverfassungsgerichts ist erst seit einigen Wochen federführend für die Versammlungsfreiheit zuständig. Er hatte die Aufgabe vom chronisch überlasteten Richter Johannes Masing übernommen.

Schon vor der Karlsruher Intervention hatten zuletzt auch andere Gerichte Demonstrationen zugelassen, die eigentlich wegen der Corona-Infektionsgefahr verboten waren. So hatte der Bayerische Verwaltungsgerichtshof kurz vor Ostern die von einem Wirtschaftsanwalt angemeldete kleine Kundgebung gegen Versammlungsverbote zugelassen. Argument: Gegen coronabedingte Freiheitsbeschränkungen könne nur jetzt demonstriert werden.

Bei der Bund-Länder-Telefonkonferenz am Mittwochnachmittag war zwar über Lockerungen aller Art diskutiert worden. Im Dialog mit den Kirchen will man zum Beispiel einen „möglichst einvernehmlichen Weg“ finden, wie mit den derzeit verbotenen Gottesdienste weiter umgegangen werden soll. Von der Versammlungsfreiheit war aber nicht die Rede. Bayerns Ministerspräsident Markus Söder (CSU) sagte, die Regierungen auf Bundes- und Landesebene hätten „genau zwei Herausforderungen im Kopf: die Gesundheit und die Wirtschaft“. An die Grundrechte der Bürger dachte er offensichtlich nicht.

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8 Kommentare

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  • 7G
    76530 (Profil gelöscht)

    Auf den ersten Blick klingt die Entscheidung des BVerG nach Gewaltenteilung - und damit gesetzeskonform.

    Der zweite Blick offenbart freilich etwas anderes. Wer sich die Auflagen im Detail anschaut und dies in Relation dazu setzt, was wirksame Demonstrationen ausmacht, kann sehen:

    die vorgeschriebenen Formalitäten nehmen jeder Demo an Wirkung. Und um nichts anderes als Wirkung geht es den Demonstrierenden. Um Wirkungsverhinderung den staatlichen Kontroll- und Ordnungsorganen.

    Deshalb mein Fazit des Urteils: Demokratie light. Prüfung von Einzelfällen heißt es so schön verharmlosend. Atomisierung von Protest nenne ich es.

    Das Beispiel Gießen macht es deutlich: maximal 15 Teilnehmer. Da kann selbst ein CDU-Bürgermeister frohen Mutes zustimmen. Nicht allen wohl, aber auch keinem weh.

    Covid19 ist ein höchst willkommener "Feind". Einer, der als riesige Projektionsfläche für Überwachung und Abbau von Grundrechten herhalten kann.

    Wenn Demokraten die Demokratie aushebeln, bleibt nur eine Frage: Demokratie - quo vadis?

    • @76530 (Profil gelöscht):

      die entscheidung klingt nach: es kommt bewegung in die sache. nun ist kreativität gefragt. l'imagination au pouvoir!

      • 7G
        76530 (Profil gelöscht)
        @christine rölke-sommer:

        Ja, Frau Positiv. :-)

        • @76530 (Profil gelöscht):

          lieber positiv als resignativ in die knie gehen!

          • 7G
            76530 (Profil gelöscht)
            @christine rölke-sommer:

            Das 'Postiv' war keineswegs abfällig gemeint. Ich freue mich über jeden Menschen, der TROTZ ALLEM noch positiv und optimistisch sein kann. Mir will es zusehends weniger gelingen.

            Falls ich in die Knie gehe: solange meine Stimmbänder noch funktionieren, kann ich noch sprechen ... und schreien. (Der Vorteil eines beachtlichen Klangkörpers.)

            Auch wenn es mit der Hörfähigkeit vieler, wie die aktuellen Umfragen zeigen, nicht so weit her ist.

            • @76530 (Profil gelöscht):

              ich hab's auch nicht als abfällig gemeint aufgenommen.

  • "Auch die Teilnehmer der Demo sollten jeweils 10 Meter Abstand nach vorn und hinten beachten sowie 6 Meter zur Seite."

    vollkommen übertrieben. Wer nimmt solche Leute ernst? Und wieso verteilt sich der Virus nach vorne und hinten anders wie zur Seite?

    Genau so wie von der Stadt ein Limit auf 15 Personen? Warum können sich nicht auch 1000 an die Regeln halten? Plant man ein Polizeiaufgebot von 3:1?

    • @danny schneider:

      Polizeistaat, ick hör dir trapsen.

      Das Demos überhaupt angemeldet werden, ist undemokratisch. Der Staat behandelt seine Bürger als kleine Kinder, die erzogen werden müssen.

      Das die meisten Deutschen, Media inklusive, in einer Richtung marschieren, macht mir Angst. Das hatten wir schon mal. Auch damals fing es mit Verbote an.