Proteste in der Türkei: Deutschland darf nicht schweigen
Die Proteste gegen Erdogan markieren einen entscheidenden Punkt. Deutsche Spitzenpolitiker müssen sich für die Freiheit von Ekrem Imamoğlu einsetzen.

E s fällt schwer, einen für Deutschland passenden Vergleich zu den Massenprotesten zu finden, die derzeit in der Türkei stattfinden. Vielleicht die Friedensdemonstration gegen den Nato-Doppelbeschluss in Bonn in den 80er Jahren oder die Massenproteste in Leipzig und Ostberlin gegen das DDR-Regime 1989. Die Mehrheit der TürkInnen, laut Umfrage 72 Prozent, sehen die Inhaftierung des Istanbuler Oberbürgermeisters Ekrem Imamoğlu als politisch motiviert und unterstützen die Proteste.
Rund eine halbe Million TeilnehmerInnen kamen am Samstag zur Protestkundgebung, die Rufe nach Erdoğans Rücktritt werden immer lauter. Die Menschen wissen, dass es um ihre Zukunft geht. Wenn İmamoğlu nicht aus dem Knast kommt und Neuwahlen erzwungen werden, wird Erdoğan, gestützt auf Polizei und Militär, eine islamistische Diktatur durchsetzen, mit ihm als Präsidenten auf Lebenszeit.
In dieser Situation bleibt die EU stumm. Zu mehr als der Sprechblase, man sei besorgt, ließ sich Ursula von der Leyen nicht hinreißen. Mehr noch, die EU macht sich zum Komplizen Erdoğans. Die Wiederannäherung wird fortgesetzt, im April soll ein hochrangiger Wirtschaftsdialog stattfinden. Es ist nicht neu, dass den Osteuropäern die Türkei und der Nahe Osten völlig egal sind, aber von Deutschland, Frankreich, Spanien und Großbritannien hätte man doch mehr erwartet.
Gerade Deutschland darf nicht ignorieren, was in Istanbul passiert. Stattdessen kommt von den CDU-TürkeiversteherInnen Serap Güler und Armin Laschet die Empfehlung, Erdoğan nicht zu verärgern, sondern nur hinter den Kulissen mit ihm zu sprechen.
Entweder sie haben den Schuss nicht gehört, oder sie wollen Erdoğan aktiv unterstützen. Die deutsche Zivilgesellschaft und die kommende deutsche Regierung müssen sich endlich klar hinter die für Recht und Demokratie Demonstrierenden in der Türkei stellen. Wenn Friedrich Merz keine Ahnung von der Türkei hat, sollte Lars Klingbeil, der İmamoğlu persönlich gut kennt, endlich laut und deutlich dessen Freiheit fordern. Und zwar jetzt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Wehrpflicht-Debatte
Pflicht zu „Freiheitsdienst“
Urteil gegen Marine Le Pen
Nicht mehr wählbar
Trumps Gerede über eine dritte Amtszeit
Zerstörung als Strategie
Debatte über ein Jahr Cannabisgesetz
Einmal tief einatmen, bitte
Immer mehr Kirchenaustritte
Die Schäfchen laufen ihnen in Scharen davon
Rechtsextreme Symbolik
Die Lieblingsblumen der AfD