Proteste in der Türkei: Das jüngste Gezi-Opfer
Nach 269 Tagen im Koma ist der 15-jährige Berkin Elvan gestorben. Er wurde am Rande der Gezi-Proteste von einer Tränengaspatrone getroffen.
BERLIN taz/dpa | Berkin Elvan ist tot. Der damals 14-Jährige wurde am 16. Juni 2013 von einer Tränengaspatrone der türkischen Polizei am Kopf getroffen worden und lag seither im Koma. Nach Angaben der Ärzte wog er zuletzt 16 Kilogramm. Am frühen Dienstagmorgen ist er gestorben.
Berkin Elvan hatte nicht demonstriert, sondern hatte an diesem Morgen – es war der Tag nach der Räumung des Gezi-Parks – das Haus seiner Familie im Istanbuler Armenviertel Okmeydanı verlassen, um Brot zu kaufen. Dabei war er in die Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Demonstranten geraten.
Am Wochenende erlitt Berkin Elvan einen epileptischen Anfall, nachdem sich sein Gesundheitszustand weiter verschlechtert hatte. Unterstützer strömten daraufhin in das staatliche Krankenhaus in Okmeydanı, nur wenige Kilometer vom Taksimplatz entfernt. Am Montag ging die Polizei gewalttätig gegen die vor dem Gebäude und in den Fluren wartenden Menschen vor, setzte dabei Knüppel und Tränengas ein und nahm etwa zehn Leute fest.
Vor dem Krankenhaus kam es auch am Dienstag zu Zusammenstößen zwischen Demonstranten und er türkischen Polizei. Wie Augenzeugen berichteten setzte die Polizei erneut Tränengas ein. Demonstranten versuchten Barrikaden zu errichten und so die Polizei zu stoppen. Auch in Ankara und Izmir gingen Menschen auf die Straße.
„Ich habe der Polizei die Befehle gegeben“, hatte sich Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan nach der Räumung des Gezi-Parks gebrüstet. Seine Polizei habe ein „Heldenepos“ geschrieben. Eine Untersuchung, unter welchen Umständen Berkin Elvan von einer Tränengaspatrone getroffen wurde und welche Polizisten dafür verantwortlich sind, wurde bislang nicht eingeleitet.
Auch ist nicht bekannt, dass Mitglieder der AKP-Regierung ihr Bedauern über das Schicksal von Berkin erklärt und sich bei der Familie nach seinem Zustand erkundigt hätten. Nur Staatspräsident Abdullah Gül rief Berkins Vater an – am Montag, als Berkin bereits seit 268 Tagen im Koma lag.
Am Dienstag drückte Gül der Familie des Jungen sein Beileid aus. Er rief dazu auf, neues Leid zu verhindern. Dies habe er auch den Behörden der Provinz Istanbul gesagt.
Kritik an Einsatz von Tränengas
Am 5. Januar 2014 wurde Berkin 15 Jahre alt. Bei Bewusstsein hat er seinen Geburtstag nicht erlebt. Je nachdem, wie man zählt. ist er das sechste oder das 13. Opfer der Gezi-Proteste vom Frühjahr vergangenen Jahres.
Die türkische Ärztekammer und die Stiftung für Menschenrechte kritisieren den exzessiven Gebrauch von Tränengas durch die türkische Polizei. Die Kritik gilt dem Einsatz von chemischen Kampfstoffen allgemein, aber auch dem Umstand, dass die Polizei die Patronen oft auf Kopfhöhe abschießt und somit als potenziell tödliche Waffe einsetzt. Im Juni wurde der 22-jährige Abdullah Cömert bei Protesten in der südtürkischen Stadt Antakya von einer Tränengasgranate am Kopf getroffen und war an Ort und Stelle verstorben.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Bundeskongress der Jusos
Was Scholz von Esken lernen kann
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag
Wie er die US-Wahl gewann
Die Methode Trump