Proteste in Teheran: Iranische Verlassenheit
Die Bevölkerung Irans wird durch etwas gehemmt, das eigentlich ihre Stärke sein könnte: ihre Diversität. Die jüngsten Proteste sind kein Grund zu frohlocken.
K eine Führung, keine Strategie, kaum benennbare Forderungen. Den jüngsten Protesten in Iran mangelte es an allem, tragischerweise auch an jeglichem Selbstschutz. 200 Tote, vielleicht mehr. Wofür sind sie gestorben? Im Vergleich mit anderen Aufständen, die sich gerade weltweit gegen soziale Ungleichheit, Unterdrückung und korrupte Herrschaft richten, fallen beim Blick auf Iran zwei große Missverhältnisse auf.
Erstens: Trotz einer viele Millionen umfassenden Basis an radikal Unzufriedenen fehlt es an jeglicher Organisiertheit, am Verbündetsein; das jüngste Ausmaß an Brandstiftungen zeugt von dieser Schwäche, die Wut findet kein Gefäß. Zweitens: Die starke und gut vernetzte iranische Diaspora ist nicht in der Lage, diesem Vakuum abzuhelfen.
Zum Vergleich etwa der Sudan vor dem Sturz des Bashir-Regimes: Internet blockiert, exzessive Gewalt des Militärs, Hunderte Tote. Doch die Demokratiebewegung bewahrte Zusammenhalt, blieb gewaltfrei, unterstützt von Diaspora-Sudanesen, die mit der Realität im Land vertraut sind. Gewiss, die Teheraner Herrschaft ist effizienter abgesichert. Aber liegt das allein an einzigartiger Unterdrückung? Die Islamische Republik stets als Solitär des Bösen zu sehen und jedem Vergleich zu entziehen, blockiert ein besseres Verständnis der Lage.
Was die Schwäche der Opposition betrifft, erklärt Repression vieles, aber nicht alles. Lehrerinnen, Rentnern, Fabrikarbeitern gelingen immer wieder öffentliche Proteste, Lkw-Fahrer haben sogar landesweit erfolgreich gestreikt. Doch es fehlt über das Punktuelle hinaus am Verbindenden; aus dem großen Reservoir an Unzufriedenheit, Frustration und Hass entsteht keine Idee, wie alles besser sein könnte, keine Vorstellung von Alternative.
CharlotteWiedemann
hat sich als Auslandsreporterin vor allem mit muslimischen Gesellschaften befasst und schreibt Bücher. Zuletzt erschien „Der lange Abschied von der weißen Dominanz“ bei dtv.
Die Schlagloch-Vorschau:
11. 12. Hilal Sezgin
18. 12. Nora Bossong
8. 1. Mathias Greffrath
15. 1. Georg Diez
22. 1. Georg Seeßlen
29. 1. Ilija Trojanow
5. 2. Jagoda Marinić
Die Gesellschaft hat sich rasant verändert
Dies zu erklären ist nicht leicht. 1978/79 hatte der kleinste gemeinsame Nenner, die Ablehnung der Monarchie, für deren Sturz gereicht. Heute wird eine doppelt so große und viel besser gebildete Bevölkerung anscheinend durch eine Diversität gehemmt, die eigentlich ihre Stärke sein könnte. Die Gesellschaft hat sich in den vergangenen 15 Jahren rasant verändert, allerdings in disparate Richtungen.
Mehr Weltoffenheit und kulturelle Modernisierung, vor allem in der Mittelschicht, zugleich aber auch ein Siegeszug von Konsumerismus und neoliberalen Lebensmodellen. Traditionelle Bindungen lösen sich auf, Vertrauen untereinander erodiert. Viele Ältere sorgen sich über Werteverfall; manche Auslandsiraner, die nach langen Jahren ihre Heimat wiedersehen, erschrecken.
Außer der materiellen Verarmung durch Sanktionen und Misswirtschaft gibt es, zumal in den ärmeren Schichten, eine soziale und psychische Verelendung, ein Konglomerat von Drogenabhängigkeit, Depression, Aggression. Im jüngsten Aufruhr brach sich vieles von der Verzweiflung der Abgehängten Bahn. Arbeitslosen und Tagelöhnern steht vielleicht nur nihilistische Gewalt zur Verfügung.
Dass manche Stimmen der Diaspora diese Art von Aufstand nun idealisieren, als handele sich um ein Vorbild an Radikalität und Systemopposition, wirkt befremdlich. Die Iraner wollen den Umsturz!, heißt es. Auf solche Fantasien aus dem sicheren Ausland passt eine persische Redensart: Dein Atem kommt von einem warmen Ort.
Syrien im Blick
Ganz ohne Zweifel ist die Sehnsucht nach gravierendem Wandel riesig. Doch die Vorstellung, die meisten Iraner hätten nichts zu verlieren als ihre Ketten, geht in die Irre. Syrien im Blick fürchten sie mit gutem Grund ein blutiges Chaos, den Zerfall des Landes oder seine Zerstückelung von außen (Iran besteht fast zur Hälfte aus ethnischen Minderheiten).
Nachdem jüngst sogar Krankenwagen in Brand gesetzt wurden, ist auch die Sorge berechtigt, bei Aktionen seien Provokateure mit am Werk: Das können rechte Ultras sein, die den internen Machtkampf in der Islamischen Republik final anheizen wollen; irrerweise sind sie von ausländisch bezahlten Agenten schwer zu unterscheiden.
Das US-Außenministerium zeigte sich nach den Unruhen zufrieden und rief Protestierende auf, sich mit den USA zu vernetzen – wohl wissend, dass bereits ein Retweet durch das State Department eine Verhaftung in Iran auslösen kann.
Auf diesem von Zynismus durchwirkten Feld wird immer unübersichtlicher, wer als Opposition gilt. Vermehrt treten Monarchisten in Erscheinung, in Hamburg wehten ihre Fahnen. Auf Twitter meldeten sich gar iranische Nazis zu Wort. Und einige deutsche Aktivisten für Menschenrechte in Iran rücken nun an die Seite der US-Politik mit der Begründung, die EU-Kritik an Iran sei zu lasch.
Die moderate Fraktion ist am Ende
Derweil entzieht sich die Islamische Republik jeglichem Einfluss von Westen her immer mehr. Zwanzig Monate nach Trumps Bruch des Nuklearvertrags ist die moderate Fraktion in Teheran politisch am Ende. Präsident Rohani dürfte bei den Parlamentswahlen im Februar seine Mehrheit verlieren; eine Rechtsaußen- oder Militärregierung könnte folgen.
Auf der Suche nach strategischen Partnern orientiert sich Teheran vermehrt nach Osten, bilanziert eine Studie des Italian Institute for International Political Studies, hin zu China, Russland und Indien. Iran asiatisiere sich.
Wer die Islamische Republik immer schon für nicht reformierbar hielt, mag frohlocken, wenn in Iran alle Hoffnung auf positiven Wandel erlischt. Tatsächlich ist das Gefühl von Verlassenheit, das sich nun ausbreitet, erschütternd.
Der Historiker Haschem Aghadschari, der früher zum linken Flügel der Reformer zählte und ein Todesurteil überlebte, schildert sein Land so: „Wir haben heute in Iran eine Gesellschaft, die einem Körper gleicht, dem der Kopf fehlt, einem riesengroßen Körper, dessen Glieder allerdings auseinandergefallen sind. Es gibt keinen Vertreter dieser Gesellschaft, keinen Sprecher, keine Institution, die im Namen dieser Gesellschaft sprechen könnte.“
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