Proteste in Serbien: Sie lassen sich nicht mehr erschüttern
Die Proteste in Serbien, die vor allem von Studenten getragen werden, reißen nicht ab. Staatschef Vučić lässt paramilitärische Sondereinheiten aufmarschieren.

Am Mittwoch riefen serbische Studenten zu Protesten unter dem Motto „Serbien, wach auf!“ auf. Bürger in der Hauptstadt Belgrad, Novi Sad, Niš, Kruševac, Smederevo, Užice, Čačak, Pančevo und Lazareva folgten dem Aufruf. In mehrere Städten kam es zu Krawallen, rund 70 Menschen wurden verletzt, gab das Innenministerium bekannt.
Das Regime befindet sich auf Konfrontationskurs mit den Demonstranten. Sondereinheiten der Polizei spielen dabei jedoch nur eine Nebenrolle. Sie sind chronisch unterbesetzt und wenn Kundgebungen gleichzeitig in mehreren Ortschaften stattfinden, regelmäßig maßlos überfordert.
Auf Bürger, die gegen die korrupte Autokratie und für einen Rechtsstaat demonstrieren und vorgezogene Parlamentswahlen fordern, werden Aktivisten und Sympathisanten der regierenden Serbischen Fortschrittspartei losgelassen.
Sichtbar große Muskeln
„Anständige Bürger“, die die Nase voll haben von den Schikanen der „Terroristen“, die seit Monaten Straßen und Brücken blockierten und den Staat lahmlegten, hätten den „Auslandssöldnern“ nun die Stirn geboten, heißt es in den gleichgeschalteten Regime-nahen Medien.
Die „anständigen“ Bürger sind leicht zu erkennen: Sie haben vorwiegend dicke Hälse, breite Schultern, sichtbar große Muskeln, haben oft Tattoos, tragen schwarze T-Shirts und Mützen, viele von ihnen sind vermummt.
Demonstranten und die bürgerliche Opposition bezeichnen die Schlägertrupps als paramilitärische Sturmabteilungen der SNS. So einige dieser unübersehbaren Typen haben kritische Medien als Kriminelle mit dicken Polizeidossiers identifiziert. Und sie haben anscheinend grünes Licht bekommen, um mit den aufsässigen Demonstranten abzurechnen. Denn die Proteste wollen einfach nicht abflauen.
Die heftigsten Krawalle gab es am Mittwoch in Novi Sad. Dort hatte am 1. November 2024 alles angefangen: Das Vordach des Bahnhofs stürzte ein, bei dem Unglück wurden 16 Menschen getötet. Die endemische Korruption habe letztendlich diese Tragödie ausgelöst, polterte die Opposition. Und plötzlich traten rund 100.000 serbische Studenten auf die politische Bühne. Sie blockierten die Universitäten und führen seitdem unermüdlich den Widerstand gegen das Regime Vučić an.
Stärkste Kraft
Die Studentenbewegung ist mittlerweile die stärkste politische Kraft in Serbien geworden. Meinungsumfragen zeigen, dass eine von ihnen angeführte Wahlliste vorgezogene Parlamentswahlen gewinnen würde. Und genau das wollen sie: in den politischen Ring steigen; nur will Vučić die Wahlen keinesfalls ansetzen.
Am Mittwoch zogen die Demonstranten in Novi Sad vor die Parteiräume der SNS. Dort warteten Vučićs Anhänger mit pyrotechnischem Arsenal auf sie, eingefrorenen Wasserflaschen, Steinen, Rauchbomben und Prügeln. Die Demonstranten wollten sich jedoch nicht zurückziehen und schlugen zurück. Es kam zu massiven Straßenschlachten. Ein Parteibüro der SNS brannte ab.
In einem der Parteiräume hielt sich auch der Vorsitzende der SNS Milos Vučević mit seinem Sohn auf. Demonstranten erkannten und umzingelten ihn. Da schoss ein Mann in seiner Begleitung aus einer Pistole in die Luft und machte ihnen so den Weg frei. Es stellte sich heraus, dass sieben bewaffnete Mitglieder der militärischen Sondereinheit Kobre den Parteifunktionär bewachten.
„Ich glaube, sie wollten uns alle umbringen“, sagte Vučević am Tag danach. Er sprach vom versuchten Mord, Lynchen, Staatsstreich, von „terroristischen Gruppen“ und „faschistischen Truppen“, die Bürger, Polizisten und Soldaten „töten wollten“.
Den Kiefer gebrochen
Ende Januar dieses Jahres war Vučević als Ministerpräsident zurückgetreten. Der Grund: Aus den Parteiräumen der SNS in Novi Sad waren zwei Männer mit Schlagstöcken auf eine Studentin zugestürmt und hatten ihr den Kiefer gebrochen.
Sie wurden verurteilt, aber Staatspräsident Aleksandar Vučić begnadigte die Täter vor einigen Wochen und bezeichnete sie auch noch als „Helden“. Treue sollte belohnt werden. Das löste zusätzlichen Groll und Frust unter den Studenten aus.
Auch Vučić erschien am Mittwoch während der Massenproteste in einer Parteizentrale in Belgrad. Dort feuerte er Mitglieder der SNS an, sich den Demonstranten zu widersetzen. Serbien habe keinen Präsidenten mehr, kommentierte der bekannte Journalist Milan Ćulibrk. Vučić habe nämlich in der Krisensituation Partei ergriffen, er sei als Parteiführer, und nicht als Staatspräsident aufgetreten. Vučević führt nur formal die SNS an.
Die beiden stellten in Aussicht, was demnächst kommen würde: Mitglieder der SNS würden ab jetzt an nirgendwohin zurückweichen und sie würden „ihr Haus“ und „ihr Eigentum“ vor den Attacken der Terroristen beschützen – nach dem Motto: Einer für alle, alle für einen.
Anstatt einfach vorgezogene Wahlen auszuschreiben, führe Vučić das Land in den Bürgerkrieg, postete die Studentenprotestbewegung auf ihrem Instagram-Profil.
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